"Das war's dann wohl", spekuliert Sophia seufzend, steht auf, hinkt über die Terrasse in den Salon und zieht sich an. Mistie sieht, dass sich hier in naher Zukunft nichts Interessantes mehr ereignen wird, und macht sich über den Rasen davon. Lady verharrt zunächst unschlüssig, folgt ihm dann aber zur Tierarztpraxis im Souterrain der Villa.
Hinter einem Rauhaardackel schlüpfen sie ins Wartezimmer. Dort verharren Hunde und Katzen in scheinbarer Eintracht. Mistie weiß aus Erfahrung, wie trügerisch dieser Eindruck sein kann, und verbirgt sich zunächst hinter dem Tresen. Von dort aus beobachtet er, wie Lady schnurstracks auf einen schwarzen Fellberg zusteuert und sich von ihm umgarnen lässt. "Du riechst nach Bruno, bist es offenbar wirklich", bemerkt die Hündin schwanzwedelnd. "Ich hätte dich beinahe nicht erkannt, so, wie du dich rausgemacht hast." "Tja", entgegnet der Briard-Mix-Rüde stolz. "Seitdem ich so liebevolle Menschen habe, kann ich mich richtig entfalten." Dabei blickt er dankbar zu der aparten Mittfünfzigerin neben ihm auf dem Stuhl und lässt sich von ihr hinter den Ohren kraulen.
"Ich werde dir nie vergessen, dass Du unseren Sammy vor der miesen Charlotte beschützt hast", beteuert Lady und erlaubt sogar, dass Bruno sie unter dem Schwänzchen beschnüffelt – wenn auch nur kurz. Schließlich hat alles seine Grenzen. Außerdem wird gerade die Tür zum Behandlungsraum geöffnet. "Bruno!", ruft Sammy und strahlt übers ganze Gesicht. "Das ist aber nett, dass Du mich mit deinem neuen Frauchen besuchst, obwohl es dir offensichtlich ausgezeichnet geht." Der Rüde begrüßt Sammy überschwänglich, lässt sich von ihm knuddeln und folgt ihm bereitwillig in den Behandlungsraum, die vorwitzige Chihuahua-Hündin im Schlepptau.
Drinnen wendet sich der Tierarzt an die Begleiterin. "Schön, dass Bruno bei Ihnen ein neues Zuhause gefunden hat. Er hat es sich aber auch redlich verdient." Die Mittfünfzigerin lacht herzhaft. "Das können Sie laut sagen! Guten Tag, Herr Doktor. Mein Mann und ich hoffen, dass wir so einen Prachtkerl wie ihn verdient haben. Verzeihen Sie meine Neugier", fährt sie fort. "Aber war das wirklich so, wie es die Medien rüberbringen? Hat er Sie tatsächlich vor der Komplizin dieser Einbrecher bewahrt?" "Und ob", beteuert Sammy. "Die hatte mich unter einem Vorwand von zu Hause weggelockt und wollte mir eine Betäubungsspritze verpassen." Schaudernd bei der Erinnerung daran, tätschelt Sammy den Rüden am Hals und fährt fort: "Aber du hast das nicht zugelassen, mein Junge, nicht wahr? Du bist dazwischengegangen."
"Sie hätten ihn bestimmt auch gern genommen", vermutet die Frau, mit fast schuldbewusstem Unterton in der Stimme. "Und jetzt hab ich ihn Ihnen weggeschnappt."
Seufzend streicht Sammy über Brunos Kopf, beteuert dann aber: "Das ist schon okay so, Frau..." "Reimann." "Frau Reimann – er kam ja von einer Tierschutzvereinigung und musste laut Vertrag erst mal zu denen zurück. Außerdem...", fährt er lächelnd fort, wobei sein Blick auf Lady fällt, "...ist es fraglich, ob diese kleine Fellnase damit einverstanden gewesen wäre. Sie ist nämlich ziemlich kapriziös und wird leicht eifersüchtig."
Gegen diese Unterstellung protestiert Lady lauthals und übertönt damit den Klingelton von Sammys Smartphone, das auf einem niedrigen Schränkchen liegt. Flugs hüpft sie hinauf, nimmt es und bringt es dem Tierarzt.
"Meine neue Assistentin", erklärt der grinsend der verblüfften Frau Reimann und versucht, sich seinen Unmut nicht anmerken zu lassen, als er die Nummer auf dem Display erkennt. Sich entschuldigend, tritt er beiseite und fragt: "Was ist?" "Ich will nur sagen, dass ich dir heute nicht assistieren kann", berichtet Sophia vom anderen Ende der Leitung. "Hab mir womöglich 'nen Bänderriss zugezogen und muss zum Arzt." Sammy, immer noch geladen, hört kaum zu. "Okay", entgegnet er knapp, unterbricht die Verbindung und fragt Frau Reimann, was er für sie und Bruno tun könne. "Seine nächste Impfung ist fällig", antwortet sie. "Und vorher sollte man doch eine Wurmkur machen, oder?" "Ganz recht", bestätigt Sammy, entnimmt seinem Arzneischrank eine kleine Schachtel und reicht sie Frau Reimann. "Das verstecken Sie in irgendwas besonders Leckerem, am besten in Leberwurst."
Lady stellt sich auf die Hinterbeine und stupst ihren großen Freund an. "Lass dich nicht so schnell austricksen, sondern spuck' die Tablette gleich wieder aus. Dann kriegst du bestimmt noch mal was von der Leberwurst." "Prima Tipp", freut Bruno sich schwanzwedelnd. "Gibt es das zur Impfung auch? Ich meine, als kleine Entschädigung dafür, dass ich die über mich ergehen lassen muss –, obwohl ich ihn vor einer Spritze bewahrt habe." "Das kannst du doch nicht miteinander vergleichen", protestiert Lady. "Die Impfung soll dich vor Krankheiten schützen. Außerdem...", fügt sie hinzu, "ist es gar nicht schlimm. Sammy kann sehr gut impfen." Bruno staunt. "Als Tierarzt-Assistenzhund weiß ich so was", erklärt Lady, "weil die Menschen hier oft darüber reden. Sammy gibt eigentlich jedem nach der Impfung ein Leckerli, allerdings keine Leberwurst."
Frau Reimann hat sich unterdessen bedankt und die Schachtel eingesteckt. Da fällt ihr plötzlich noch etwas ein. "Oh, bevor ich's vergesse..." Lady horcht auf. Was kommt jetzt? Diese Frau scheint ja ganz okay zu sein, aber all die üblen Erfahrungen in der Vergangenheit haben das Misstrauen der Hündin Menschen gegenüber geschürt.
"Ich habe gehört, dass Sie einen Tiernotrettungs-Verein gründen", fährt Frau Reimann fort. Als Sammy das nickend bestätigt, fragt sie: "Haben Sie schon einen Fahrer für den Rettungswagen?" Der Tierarzt verneint und gesteht ein, daran noch gar nicht gedacht zu haben.
Ein Leuchten geht über Frau Reimanns Gesicht. "Ich kann Ihnen einen empfehlen, und zwar meinen Mann. Er war Fernfahrer, wissen Sie, und weiß einfach gar nichts mit sich anzufangen, seitdem er in Rente ist. Unter uns gesagt..." Vertraulich legt sie eine Hand auf Sammys Unterarm und blickt sich um, als wolle sie sich vergewissern, dass sonst niemand im Raum ist. "Er geht mir entsetzlich auf die Nerven mit seiner ständigen Leichenbittermiene."
Sammy ist begeistert. "Das wäre wirklich prima! Ich fürchte nur..." Er stockt, doch Frau Reimann scheint seine Gedanken lesen zu können und hilft ihm aus der Verlegenheit. "Ich weiß schon, was Sie sagen wollen, machen Sie sich mal wegen der Bezahlung keine Sorgen", versichert sie. "Er fährt selbstverständlich ehrenamtlich, wird froh sein, dass er wieder etwas zu tun hat. So wie ich ihn kenne..." Lachend unterbricht sie sich selbst", ...wird er dem Verein noch was spenden wollen – aus lauter Dankbarkeit dafür, dass er endlich was Vernünftiges mit seiner Zeit anfangen kann."
Erleichtert atmet Sammy auf. "Na, dann... Das wäre wirklich super. Er ist uns herzlich willkommen!" Frau Reimann zwinkert ihm zu. "Sie müssen es ihm ja nicht unbedingt sagen, aber mir täten sie damit auch einen großen Gefallen. Ach übrigens..." Plötzlich wird sie ernst und verzieht das Gesicht. "Ich hoffe, dieser schreckliche Kerl, dieser – Sie wissen schon –, ist inzwischen zu einer gerechten Haftstrafe verurteilt worden." Sammy zuckt mit den Schultern. "Wie man's nimmt – unter zehn Jahren, weil man ihm offenbar nicht nachweisen konnte, dass der Mord an seinem Komplizen keine Notwehr war."
Wenn die Rede von Anton ist, kann Lady sich ein Knurren nicht verkneifen. Und wie so oft, wird es auch diesmal von den Menschen fehlinterpretiert. "Jetzt scheint sie tatsächlich eifersüchtig zu werden", meint Frau Reimann und verabschiedet sich umgehend. Sammy ist es recht, denn draußen warten noch andere Patienten.
Der junge Mann wimmert, als erleide er Höllenqualen. Das erzeugt einen ebenso erstaunten wie mitleidvollen Blick seines deutlich älteren weiblichen Gegenübers. "Denken Sie gerade daran, welche Schmerzen Sie empfanden, als der Keiler seine Hauer in Ihre Lenden bohrte, Anton?"
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