Der Gefragte wirkt wie geistig abwesend. Jedenfalls verneint er auffallend spät, dann aber umso entschiedener. "Nein, nein. Ich hab plötzlich wieder die Hiebe gespürt." "Hiebe?" "Ja", erwidert Anton, verzieht das Gesicht zur Grimasse und verleiht seiner Stimme einen kindlichen Ton. "Jeden Abend, wenn mein Al... wenn Papa nach Hause gekommen ist, hat er seinen Frust, den er auf der Arbeit einstecken musste, an mir ausgetobt und mich mit dem Ledergürtel verdroschen. Abendessen? Von wegen, nicht mal Zuckerbrot hat's gegeben, nur Hiebe, lauter Hiebe." Er bricht in herzzerreißendes Schluchzen aus. "Und ich war doch noch nicht mal vier Jahre alt!"
Nur mühsam kann Dr. Schwartz den Impuls unterdrücken, ihm eine Hand auf den muskulösen Unterarm zu legen. "Lassen Sie ihn ruhig heraus, Ihren Schmerz", sagt sie sanft. "Und auch Ihre Wut. Lassen Sie alles fließen."
Das lässt Anton sich nicht zweimal sagen. Sturzbachartig schießen ihm Tränen aus den Augen. Es klappt prima, denn vorsorglich hat er etwas Pfeffer in die Hosentasche gesteckt. Den reibt er sich nun unauffällig in die Bindehaut und denkt an Sophia. Beides schürt gewaltig seinen Hass auf sie.
Dabei wäre das gar nicht nötig. An aufgestauter Wut mangelt es ihm wirklich nicht. Sie erhält ihn am Leben. Für jeden anderen wäre der Wildschweinangriff tödlich verlaufen. Aber nicht für Anton! Er hat noch eine Rechnung offen mit Sophia. Sie ist schuld, schuld an allem – auch daran, dass er seinen armen Augen solche Schmerzen zufügt! Wenn sie und ihr verdammtes Viehzeug ihn nicht in den Knast gebracht hätten, wäre das unnötig! "Ahhh!", brüllt er aus voller Kehle, droht dabei die Kontrolle über sich zu verlieren und springt der Gefängnispsychologin fast auf den Schoß. Unwillkürlich weicht sie zurück. "Herr Rosen..."
Diese Anrede sowie der Blick in ihr erschrockenes Gesicht lassen bei Anton die Alarmglocken schrillen. Er beherrscht sich und beißt so fest die Zähne zusammen, dass es knirscht und der Schmerz nun auch noch durch seinen Kiefer rast. Herr Rosen – so hat sie ihn seit drei Sitzungen nicht mehr genannt. Wenn er daran denkt, wie anstrengend es für ihn war, ein Vertrauensverhältnis zu ihr aufzubauen... Nein, das darf er nicht aufs Spiel setzen! "Bitte entschuldigen Sie, es war nur... Sie haben doch gesagt, dass ich meinen Schmerz fließen lassen soll." "Natürlich Anton, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen."
Na, das klingt ja fast schon so, als würdest du dich jetzt bei mir entschuldigen, triumphiert er insgeheim und senkt nickend seinen Blick. Dass sie ihm jetzt bloß nichts anmerkt! Anton spürt, wie Nervosität in ihm aufsteigt. Er versucht sie wegzureden, bricht in Schweiß aus. Sein Wortschwall ist nicht mehr zu stoppen. Während er eine Kindheit und Jugend vor der Psychologin ausbreitet, die an Grausamkeiten kaum zu übertreffen ist, staunt er selbst über seinen Einfallsreichtum. Und das Beste ist: Sie kauft es ihm ab. Ja, er sieht es deutlich in ihren Augen. Fast könnte er ins Schleudern kommen und glauben, dass er das alles gar nicht erfunden, sondern tatsächlich am eigenen Leib erlitten hat. Doch so etwas passiert Anton nicht, dazu ist er einfach zu abgebrüht.
Gebannt und schockiert von seinen Schilderungen, vergisst die Psychologin zunächst, sich Notizen zu machen. Als es ihr endlich auffällt, kommt sie kaum noch hinterher und hämmert unbarmherzig auf die Tastatur ihres Laptops ein.
Anton bemerkt es und verlangsamt durch ausgiebiges Seufzen unauffällig sein Erzähltempo. Alles, was diese Tussi jetzt aufschreibt, so denkt er, kann ihm nur nützen.
Allmählich legt sich seine Nervosität. Indem er sich vorstellt, wie er seine Gewaltfantasien auslebt, genießt er sie sogar. Dass eine Therapie so viel Spaß machen kann, wer hätte das gedacht? Er bestimmt nicht! Und dabei hatte er sie anfangs als lästige Pflicht empfunden, der er sich nicht entziehen darf, wenn er hier jemals wieder rauskommen will.
"Anton, Anton..." Zähflüssig sickert die sanfte Stimme der Psychologin in sein Bewusstsein. "Wir müssen für heute Schluss machen. Es ist bereits nach siebzehn Uhr."
Ihr Patient reagiert nicht darauf. "Und dann hat mein Al... hat Papa auch noch Salz in meine Wunden gestreut, die er mir mit dem Gürtel ins Fleisch geschlagen hat. Aber trotzdem...", fügt Anton mit weinerlicher Stimme hinzu, "...hab ich ihn geliebt. Ein Kind muss seine Eltern doch lieben, – ganz egal, was sie mit ihm machen, nicht wahr?" Das ist ihm gerade eingefallen, irgendwo hat er das mal gelesen oder gehört.
"Anton", mahnt die Psychologin und bleibt ihm die bestätigende Antwort schuldig. Das erzeugt Aggressionen in ihm. Gerade noch kann er sie unterdrücken.
"Es tut mir leid, wenn ich Sie unterbrechen muss, Anton, aber wir haben unseren Zeitrahmen schon um fünf Minuten überschritten. Außerdem ist es nicht gut, wenn zu viel von diesen qualvollen Erinnerungen auf einmal herauskommt."
Nicht gut, nicht gut! Unter dem Tisch ballt Anton beide Hände zu Fäusten und gräbt dabei seine Fingernägel so tief ins Fleisch, dass es schmerzt. Was weiß die schon, was gut ist – für mich! Olle Psychotussi! Seine Gedanken dröhnen dermaßen laut in seinem Kopf, dass er fürchtet, sie geäußert zu haben, als ihm der irritierte Blick der Frau auffällt.
Doch sie sagt nichts, was darauf hinweist, klappt nur mit etwas zittrigen Fingern ihren Laptop zu, steht auf und ruft nach dem Aufseher.
Als der so schnell erscheint, als habe er direkt hinter der Tür gewartet, erlangt sie ihr inneres Gleichgewicht zurück und verabschiedet sich freundlich lächelnd von Anton.
"Jetzt reden sie schon seit drei Tagen nur das Allernötigste miteinander", winselt Lady, als sie Mistie nach einem anstrengenden Vormittag in der Praxis auf dem Flur im zweiten Stock der Villa begegnet. "Ja", bestätigt der Marder, "und dabei ist Frühling – Paarungszeit! So kann es nicht weitergehen. Du kennst die Menschen besser als ich. Was können wir tun? Los, schlag was vor."
Weil der Hündin spontan nichts einfällt, kratzt sie sich erst mal hinter dem Ohr. Währenddessen fährt Mistie fort: "Wenn es denen schlecht geht, haben wir auch keinen Spaß. Sammy ist so zerstreut, dass er sogar vergessen hat, meinen Napf zu füllen, als ich gestern Abend später nach Hause gekommen bin. Ich hab ihn erst anstupsen müssen." "Aber warum kommst du auch immer so spät?", regt Lady sich auf.
"Immer?!" Mistie fühlt sich zu unrecht beschuldigt. "Na ja", meint Lady, "fast immer treibst du dich bis nach der Abenddämmerung im Wald herum – manchmal noch viel länger." Der Marder sieht nicht ein, was daran schlimm sein soll. "Na und, komm doch einfach mit." "Du weißt genau, dass das nicht geht", belehrt ihn die Hündin. "Ich muss schließlich auf die Villa aufpassen und auf unsere Menschen. Im Gegensatz zu dir, besitze ich Verantwortungsgefühl."
Mistie ärgert sich über diese Vorwürfe, möchte aber nicht streiten. Flüchtig erwägt er, zurück ans andere Ende des Flurs zu laufen, wo Sammy in seinem Büro am Schreibtisch sitzt und am Computer einen Kalkulationsplan für den Tiernotrettungs-Verein erstellt. Dass er seinen beharrlich knurrenden Magen dabei ignoriert, konnte Mistie nicht mehr ertragen. Fast fühlte er sich davon bedroht. Und nun auch noch Ladys Unmut... "Du brauchst doch gerade nur jemanden, auf dem du rumhacken kannst, weil Sophia nicht macht, was du willst", sagt er ihr auf den Kopf zu.
Die Hündin fühlt sich ertappt. "So bockig war sie wirklich noch nie, liegt auf dem Bett in ihrem Schlafzimmer, das sie jetzt für sich allein eingerichtet hat, und jammert über ihren schmerzenden Fuß. Ans Essen denkt sie nicht die Bohne, obwohl die Mittagspause schon fast vorbei ist." "Na ja", meint Mistie. "Also da kann ich Sophia verstehen. Bohnen gehören auch nicht gerade zu meinen Lieblingsgerichten." "Das sagt man doch bloß so!", kläfft Lady, kehrt aber sogleich zum eigentlichen Thema zurück: "Wenn sie nichts isst, fällt natürlich auch für mich kein Häppchen ab."
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