Sammy springt von seinem Stuhl auf und schüttelt ihm herzlich die Hand. "Perfekt – einfach perfekt, Herr Reimann!" "Nix Herr Reimann", widerspricht der Angesprochene entschieden. "Ich bin der Freddy."
"Super, echt perfekt!", rufen alle Vereinsmitglieder, auch viele der Gäste. Nur Anja dämpft die Euphorie. "Fast perfekt", schränkt sie ein, "bis auf eine klitzekleine Kleinigkeit." Sie hält inne und blickt in fragende Gesichter. "Wir dürfen – sogar im Notfall –, weder mit Blaulicht noch mit Sirene fahren."
Aus fragenden Gesichtern werden lange.
Doch bevor eine Diskussion entstehen kann, überschlagen sich die Ereignisse. Eine Passantin sieht den Wagen mit dem auffallenden Schriftzug und stürzt ins Lokal. "Da hinten!", ruft sie und weist mit dem Finger in die Ferne. "Ein paar Straßen weiter ist ein Hund angefahren worden!"
Ohne kostbare Zeit zu vergeuden, eilen Sammy und Freddy hinaus und brausen mit quietschenden Reifen davon.
August, immer noch entrückt und in seinem Einfallsreichtum schwelgend, merkt verdutzt an, dass der Verein ja noch gar nicht rechtskräftig gegründet worden sei, doch niemand hört zu. Stattdessen geht einigen durch den Kopf, was Sophia ausspricht: "Das muss ausgerechnet im Feierabendverkehr passieren."
"Los, flieg hinterher!", fordert Captain Nemo Elsie auf. Die frisst gerade den Kindern die Pommes weg. Der Gast, auf dessen Tisch er immer noch sitzt, streicht ihm tröstend über den Kopf. "Mach dir nichts draus, ich bestell' dir eine neue Portion." Weil der Kater weiß, wie zwecklos es sein kann, Menschen über ihre Irrtümer aufzuklären, ignoriert er diese Bemerkung und wendet sich erneut an die Elster. "Willst du nicht beobachten, was sie machen?" "Ja", hakt Mistie ein, "du könntest uns dann Bericht erstatten."
Elsie hüpft auf eine Stuhllehne in Türnähe und putzt sich den Schnabel daran ab. "Ich muss zurück zu unserem Schiff und Elias dabei helfen, es vor den Krähen zu verteidigen." "Das können doch Nemo und Mistie übernehmen", wendet Lady ein. Die beiden sehen sie irritiert an. "Na ja", erläutert sie, "ihr könnt aufs Dach klettern, ich nicht. Und du", wendet sich Lady an Captain Nemo, "bist obendrein ein Schiffskater." "Ex-Schiffskater", berichtigt der Angesprochene. "Ist doch wurst", kläfft Lady genervt und stützt sich mit den Vorderpfoten an Sophias Schulter ab, um auf selber Höhe mit ihm zu sein – mindestens. "Eben nicht!", knurrt Nemo. Wurst? Mistie kann sich wieder mal nur wundern.
Unterdessen hüpft Elsie ungeduldig auf der Stuhllehne herum. "Könnt ihr euch jetzt endlich entscheiden?"
Auch unter den Menschen entbrennt eine heftige Diskussion. Deshalb achtet keiner auf den tierischen Disput. Anja verlangt von Harry Horch, die Notwendigkeit von Sirene und Blaulicht für die Tiernotrettung in seinem Bericht zu erwähnen – ja, zu bekräftigen. Sie habe gar nichts von ihm zu verlangen, erregt der sich und behauptet, damit würde er sich nur lächerlich machen. Das stachelt wiederum Anja an.
Ex-Schiffskater hin oder her – seine Kletterkünste will Captain Nemo nicht abstreiten. Ein Kater ist er schließlich immer noch. "Dann muss er aber mit aufs Dach", bekräftigt Lady, springt von Sophias Schoß und läuft zur Tür, Mistie hinterher. Ehe auch nur einer der Menschen etwas davon mitkriegt, flitzen, beziehungsweise fliegen die Tiere auf und davon.
"Typisch Elsie, sieht wieder mal alles nur aus der Vogelperspektive", meint Lady, als sie, Mistie und Captain Nemo das Ende des Gehwegs erreicht haben und den Straßenverkehr passieren lassen. Tatsächlich können sie nur mit hochgereckten Köpfen zusehen, wie die Elster über das Haus auf der anderen Straßenseite hinwegfliegt und ihrem Blickfeld entschwindet. "Kommt!", ruft Mistie, als endlich eine Lücke zwischen den Fahrzeugen entsteht, und überquert die Straße, gefolgt von seinen Freunden. "Die Richtung scheint ja zu stimmen."
Sie erklimmen gerade den Bordstein der anderen Seite, da ist Elsie plötzlich wieder da. "Gut, dass du deinen Fehler bemerkt hast", seufzt Captain Nemo erleichtert. "Fehler?" Elsie flattert ihm vor der Nase herum und sieht ihn irritiert an. "Was für ein Fehler? Ich bin zurückgekommen, weil ich gemerkt hab, wie lahm ihr seid." "Du warst schon bei eurem Schiff?", wundert sich Mistie, während sie dem vorausfliegenden Vogel folgen. Elsie stellt sich taub. Lady meint, es sei wahrscheinlich nur ein Katzensprung bis nach dorthin. "Unmöglich!", äußert sich Mistie. "Wenn eine Katze auch nur annähernd so weit springen könnte, wär' Captain Nemo doch schon längst dort!" Der Kater fühlt sich geschmeichelt und denkt nicht daran, Mistie die Bedeutung dieser Redewendung zu erklären.
Die Elster hüllt sich beharrlich in Schweigen. Nachdem sie sich flugs vergewissert hatte, dass dem Nest in der goldenen Kogge keine akute Gefahr droht, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, auf dem Rückflug einen Abstecher zur an der Norderelbe gelegenen Elbphilharmonie zu machen. Die Abendsonne spiegelt sich einfach zu verführerisch in deren gläsernen Fassade. Aber wozu soll sie das diesen Pelzträgern auf die Nasen binden?
Die haben, unter ihrer Führung, endlich die Tanzenden Türme hinter sich gelassen und erregen immer wieder die Aufmerksamkeit von Passanten. Manche müssen gar zweimal hinschauen, ehe sie ihren Augen trauen können. Ein Hund, eine Katze und ein Marder, die gemeinsam einer Elster hinterherrennen – wo gibt's denn so was?
Glücklicherweise haben es die meisten Leute zu eilig, um sich einzumischen. Nur eine ältere Frau schaut länger hin. Ist die Elster vielleicht flügellahm?, drückt ihr besorgter Blick aus. Endlich kann sie nicht mehr tatenlos zusehen. Wild ihre Handtasche schwenkend, stürzt sie sich auf die überraschten Vierbeiner und schreit: "Lasst sofort das Vögelchen in Ruh'!"
Nun bleiben doch weitere Passanten stehen und schauen zu. Lady, mehr verärgert als verängstigt, springt kläffend um die Füße der augenscheinlich Verrückten herum, um sie zu vertreiben. Captain Nemo findet die Situation schlichtweg unangenehm, während Mistie, tief im Herzen immer noch ein Wildtier, pfeilschnell inmitten einer Frühlingsblumenrabatte am Straßenrand verschwindet.
Das "bedrohte Vögelchen" landet auf dem dauergewellten, grauen Haupt seiner Beschützerin und zupft daran herum. Würde sich das nicht hervorragend als Nistmaterial eignen? Die Frau kreischt hysterisch und ergreift die Flucht, ohne auf den Weg zu achten – quer über die nächste Straße und hindurch zwischen hupenden Autos.
Elsie ist genervt und würde sie liebend gern ziehen lassen, wenn sie das nur könnte. Ihre Krallen haben sich nämlich im Kraushaar verhakt. Erst durch panische Flügelschläge gelingt es ihr, sich loszureißen.
Zerzaust bleibt die alte Dame zurück, während Elsie mit haarigen Füßen zu ihren Freunden fliegt und sie anfeuert: "Los weiter, bevor mich noch jemand vor euch retten will!" Dabei kitzelt sie mit den Haaren an den Füßen deren Nasen. "Ist es – hatschi – noch weit?", fragt Captain Nemo, der das Schlusslicht bildet, weil er untrainiert ist und zu gut genährt.
"Weit???" Elsie wundert sich immer wieder darüber, wie solch flügellose Spezies bis heute fortbestehen können – wahrscheinlich nur, indem sie vom dekadenten Wohlstand der Menschen profitieren. Als Gegenleistung dafür müssen sie sich denen unterordnen – na ja, wenigstens so tun, als ob. Für eine waschechte Elster wäre das nichts! Ein bisschen schmarotzen? Okay, aber um den Preis ihrer Unabhängigkeit? Niemals!
Derartige Gedanken behält Elsie jetzt allerdings für sich. "Da, hinter den paar Häusern, da ist es schon, mein prachtvolles Schiff!", ruft sie stattdessen aus und schwingt sich steil in die Höhe.
Ein paar Häuser... Für uns sind das ein paar Straßenzüge, denken die anderen, sparen sich ihren Atem jedoch fürs Laufen.
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