Lassalle kämpfte mit sich und mit zwei hyperaktiven Omron-Züchtungen. Ihre Körper waren mit transplantierten künstlichen Nervenbahnen übersät, bei denen man an den zentralen Punkten winzige Steuerungsimplantate erkennen konnte. Lassalle interessierte sich für den Informationsaustausch der Impulszellen zum Gehirn. Die beiden Omrons verhielten sich sehr aggressiv, so dass Lassalle ihnen eine Injektion verpassen musste, die sie unmittelbar in einen Lethargiezustand versetzte. Elisar und Lassalle separierten die beiden für weitere Untersuchungen in den Laborabteilungen.
Nach seinem Auftritt kam Jonny Scoops auf sie zu und begrüßte sie, indem er mit seinem Schädel nervös hin und her wippte, wie es so seine Art war.
„Bist du immer noch von der Idee besessen, aus den Schaltkreisen dieser kleinen Biester die Absichten der Trion-Lab´s von Pfafner-Organon zu ergründen, Arthur?“
Ihm bereitete es sichtlich Vergnügen, der ParaCybernetik-Abt. ihre Machtlosigkeit vorzuhalten angesichts des Ausmaßes an menschlichem Elend, mit dem man hier konfrontiert wurde. Obwohl Jonny Scoops an neuen Erkenntnissen und vermeintlich tiefschürfenden Einsichten interessiert war, die ihre Lage hier betraf und die Arthur Lassalle immer bereitwillig von sich gab, so nahm er doch nicht alles ernst, was man ihm auftischte.
„In diesen kleinen Dingern steckt hundertmal mehr menschliche Logik verbunden mit Bosheit und Irrsinn als in deinem schrägen Hirn jemals Platz hätte, Jonny“, antwortete Lassalle.
Scoops grinste, was durch seine ausgeprägte Gesichtsnarbe noch verstärkt wurde. Auch Lassalle zwang sich zu einem halbwegs natürlichen Lächeln. Er beherrschte sich, obwohl ihm ganz anders zumute war. Jonny Scoops, dem Lassalles elender Zustand nicht verborgen geblieben war, behielt ihn aufmerksam im Auge.
„Aber das ist nicht das Problem“, fuhr Lassalle fort. „Dir ist ja nicht entgangen, dass der Zustand der Welt, so wie wir sie heute vorfinden, bis in die kleinste Zelle hinein einen Zustand erreicht hat, der uns mit Schrecken erfüllen sollte.“
„Ich hab mir dieses Stück Dreckserde nicht ausgesucht“, bekannte Jonny Scoops.
„Täusche dich nicht, Jonny. Auch jenseits dieses Sektors ist die Zivilisation gescheitert. Wir haben ein Selbstzerstörungspotential erreicht, das in allen Bereichen außer Kontrolle geraten ist. Irgendwo in unseren genetischen Verbindungen hat dieses Scheitern begonnen. Das zu ergründen und zu verstehen ist unsere verdammte Pflicht, bevor es endgültig zu spät ist“, philosophierte Lassalle und vertauschte seine gespielte Gelassenheit mit einer ehrlichen ernsten Miene. Scoops zeigte sich unbeeindruckt.
„Ich gönne dir ja deine ruhelosen Nächte, in denen du die Welt vor sich selbst zu retten versuchst, aber an der Tatsache, dass man uns hier krepieren lässt wie Ungeziefer, kommst du nicht vorbei, Arthur. Es ist zu spät für deine elitären Weltdeutungen. Wir sind hier nur die Reste der toten Tiere auf dem Gala-Büffet des gierigen, alles verschlingenden Masterplankalendariums. Wann uns das Ende ereilt, weiß niemand. Aber der Tag wird kommen, das ist gewiss“, provozierte Scoops und setzte sich dabei geschickt in Szene, aber Lassalle ließ sich von seinen Gedanken nicht abbringen.
„Hör mir ein einziges Mal zu, Jonny. Weißt du, wer du bist und woher du kommst und was deine Bestimmung ist? Du weißt es nicht? Jetzt, da wir vermuten können, dass wir nicht die einzigen intelligenten Lebewesen im Universum sind und uns unsere Vergangenheit eingeholt hat, stellt sich doch die Frage: Sind wir authentisch oder sind wir nur Produkte einer Versuchsanordnung?“
Jonny Scoops lachte und schaute an sich herab.
„Ich, eine Versuchsanordnung? Na gut, Arthur, ich gebe zu, das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir gehen als Menschen vor die Hunde, weil wir den Glauben an eine funktionierende Gemeinschaft verloren haben. Das ist meiner Meinung nach der Grund, warum diese Zivilisation scheitern wird“, behauptete Jonny Scoops.
„Das ist nur ein Symptom von vielen. Wir betrachten uns nicht mehr als eine Menschheit, das ist schon richtig. Die einzelnen Interessen sind zu unübersichtlich geworden. Aus diesem Grund habe ich euch geholfen, dem CyberCreator eine erste informelle Basis zu verschaffen. Aber damit beginnt erst die eigentliche Aufgabe: der zerfallenden Zivilisation die Idee eines Neuanfangs abzuringen. Das wird in Zeiten der Eskalation immer schwieriger.“
„Du machst dich kaputt, Artur. Letztendlich werden wir uns doch alle in unser Schicksal ergeben müssen . . .“
Ein Kämpfer der TASP trat auf Jonny Scoops zu und wies auf eine Anzahl von Menschenwesen hin, die aus der Gruppe der Laboriten ausgesondert worden war.
„Dieses Gesindel da behauptet, du hättest ihnen aus der Seele gesprochen, Jonny. Sie sind bereit, dir zu folgen.“
„Fabelhaft, wer hätte das gedacht? Es gibt also doch noch genügend Dummköpfe mit Grips, die an irgendetwas glauben wollen. Ich war der Menschheit noch nie so eng verbunden wie heute. Es hat sich mal wieder bestätigt, wir sind alle eine große Familie ...Wir sehen uns in der Hölle, Arthur.“
Jonny Scoops hatte genug mit seiner Figur und seiner Rolle kokettiert. Er machte vor den beiden eine ausladend theatralische Verbeugung und wandte sich dann seinem Trupp zu.
„Habt ihr diese verlauste Bande auch genau untersucht ? Das sind zu viele. Wir können doch nicht jeden Hohlkopf aufnehmen und durchfüttern. Was soll ich mit diesen Glatzköpfen da anfangen? Das Material aus den Labors wird auch immer minderwertiger....“
Scoops schaute ungeduldig einigen Laboriten hinter die Ohren.
„Von mir aus, packt sie zusammen, ich bin ja kein Unmensch“, knurrte er schließlich.
Lassalle und Elisar, die bisher stumm geblieben war, tauschten lästerliche Blicke aus.
Es hatte wieder zu regnen begonnen. In den dunklen Ecken der Gegend rotteten sich die Straßenkinder zu unübersichtlichen Haufen zusammen. Quälender Hunger und die Sucht nach Spish machten sie zu tollwütigen, kleinen Bestien.
Naila Elisar und Arthur Lassalle packten ihre zwei Geschöpfe mit den außergewöhnlichen Implantaten und eilten durch das Brackwasser der Straße auf ein altes Portal zu, das sich vor den Resten einer verfallenen Kathedrale auftat. Gerade noch rechtzeitig, denn die mächtige Masse der hungernden Meute drängte immer verwegener auf die von Laboriten besetzte Corus Plaza. Einige von ihnen bezahlten das mit dem Leben. Die TASP schoß rücksichtslos in die Menge, um ihren Rückzug abzusichern.
Vor einem Feuer, hinter einem Fahrzeugwrack, nagte ein kleines, unansehnliches Etwas an einer verkohlten Ratte. In dieser trostlosen Gegend war eine Begegnung mit orientierungslos umherirrenden Laborwesen nichts Ungewöhnliches. Sie verkrochen sich ängstlich in irgendwelche düsteren Schlupfwinkel, überlebten aber oft nur wenige Tage. Diesem da am Straßenrand fielen auf der rechten Seite des Kopfes rotgelockte Strähnen ins Gesicht. Die andere kahle Seite des Schädels glänzte frisch. Als er Elisar und Lassalle auf sich zukommen sah, verwandelte sich sein Gesicht in eine grinsende Fratze. Lassalle hatte die ungewöhnliche Kopfform des Wesens bemerkt. Ihm fiel auf, dass die ganze linke Schädelhälfte aus einem einzigen kunstvoll gearbeiteten Implantat zu bestehen schien. Es war durchaus möglich, dass es sich hierbei um eine seltene Spezialanfertigung handelte, um künstliches und organisches Material zu verschmelzen, erklärte er Elisar. Lassalle war elektrisiert. Er riss sich die komplette Schutzhülle vom Kopf und starrte den Kleinen an, als wenn er eine neue Spezies entdeckt hätte. Er kniete vor ihm nieder und strich fast zärtlich über das elfenbeinschimmernde Implantat. Beide Gehirnteile schienen unsichtbar miteinander verwachsen zu sein. Lassalle zog seine Mundwinkel unter der schorfbedeckten Haut zu einem schmerzhaften Lächeln auseinander. Dem Kleinen gefiel das. Seine lustigen Augen verfolgten aufmerksam jede Geste des merkwürdigen Fremden.
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