Keine Chance. Benjamin und Martin verlegten sich auf Pornos und gelegentliches Resteficken. Manchmal spielten sie auch Kiss and Rush , ein Spiel, das sie in Anlehnung an eine englische Fußballtaktik benannt hatten. Dabei gingen sie bei einer Party zu einer Frau, küssten sie auf den Mund und rannten dann so schnell wie möglich außer Reichweite. Dieses Spiel spielten sie um die Wette, bis sie von der Party geworfen wurden oder der Freund eines Mädchens einem von ihnen eins verpasst hatte. Man kann sagen, dass sie in Sachen weibliches Geschlecht einen kleinen Mangel verspürten. Dennoch waren Frauen nichts, was sie dazu bewegen konnte, ihren Lebensstil aufzugeben. Dazu musste schon eine drastische Maßnahme der Arbeitsagentur das Licht der Welt erblicken. Um es kurz zu machen: Trotz ihres Drogenlevels waren beide an jenem Abend in heller Aufruhr.
Denn so sehr sie den Herbst und den Winter hassten, so sehr ihr Leben sie manchmal anödete, während der Semesterferien hatten sie in wochenlangen Reisen die Welt gesehen, und das eine, was sie die Welt gelehrt hatte, war: Deutschland war ein Paradies. In Indien oder Nigeria wollten sie selbst mit einem Harem an Frauen nicht leben.
Benjamin Fürstner war der etwas Größere, ca. zehn Zentimeter, und insgesamt etwas gröber Geschnitztere. Martin war stromlinienförmiger, hatte hübsche Locken und ein wohlgeformtes Gesicht, das, wenn man Benjamins Exfreundin glauben durfte, für Gesicht eines Mannes viel zu glattgebügelt war. Sie tröstete ihren Freund damit, dass dieser ein interessantes Profil habe. Damit meinte sie sein ausladendes Kinn und seine nicht minder markante Nase. Außerdem war er blond, nicht dunkelblond, sondern norwegisch-blond, was selbst in Berlin eine Seltenheit darstellte, und hatte im Gegensatz zu seinem Freund blaue Augen. Beide hatten sie also weder Grund, über ihre Erscheinung in Euphorie zu verfallen, noch sich irgendwelchen Komplexen hinzugeben. Für ein Leben auf der Couch reichte ein solches Aussehen allemal.
Jetzt hatten sich die beiden Gesichter verfinstert und verdunkelten sich weiter um die Wette. Ihr Äußeres war jetzt wirklich das letzte Problem. Auch Triebabfuhr war nicht mehr angesagt.
„Wir müssen was machen“, sagte Martin und drückte den Joint im Aschenbecher aus. Er drückte und drehte so lange, bis nichts mehr davon übrig blieb.
„Aber was?“ Benjamin flätzte sich auf dem Sessel.
„Es gibt nur eine Möglichkeit.“ Martin genoss, dass nun er der Tonangebende war. „Wir müssen irgendwie aus dem System raus.“
„Wie soll das gehen?“ Benjamin sammelte seine Gedanken. „Das ist doch sicher alles digitalisiert.“
„Ja, schon. Aber vielleicht noch nicht im Zentralrechner.“
„Ach was! Du meinst, das liegt alles noch auf den Berliner Servern?“
„Auf einem einzigen. Und zwar dort, wo wir uns arbeitslos gemeldet haben.“
„Du willst damit sagen.“ Benjamin zeigte zur Wand, in Richtung des Arbeitsamts. „Dort?“
„Genau.“ Martin nickte. „Auf der anderen Straßenseite. Ein Glück, dass wir uns nicht online arbeitslos gemeldet haben. Sonst wären wir jetzt zentral gespeichert.“
„Wenn wir Glück haben! Und sie die Daten noch nicht weitergeleitet haben.“
„Auf jeden Fall müssen wir es versuchen.“
„Was? Hingehen und uns löschen lassen?“
„Haha. Sehr komisch. Nein.“ Martin grinste.
„Was dann?“
„Hingehen und… Und uns selbst löschen.“
„Wie? Einbrechen?“
Martins Grinsen wurde breiter. „Ganz genau.“
„Du spinnst doch!“ Benjamin sah ihn ungläubig an.
„Hast du eine bessere Idee?“
„Jetzt?“
„Jetzt oder morgen. Hast du eine?“
„Nee.“
„Na, also. Spätestens morgen Nacht müssen wir da rein.“
„Und wie? Einsteigen geht nicht. Ich bin schon über dreißig.“
„Selten so gelacht“, meinte Martin. „Natürlich Einsteigen. Was denn sonst? Notfalls mit Gewalt.“
„Damit sie uns gleich festnehmen?“ Benjamin streichelte seinen Bauch.
„Also ich bin lieber hier im Gefängnis als…“
„Ja, ja. Bei den Assis aus Neukölln? Glaubst du doch selber nicht.“
„Na, ja, vielleicht nicht. Aber riskieren müssen wir’s trotzdem.“
Benjamin schüttelte den Kopf. „Du bist verrückt, Matti!“
„Und du bist dabei, Benni!“, nagelte ihn Martin fest.
„Meinetwegen. Und warum erst morgen?“
„Wir müssen klar im Kopf sein.“
„Und wie willst du an die Daten ran? Vom Hacken hast du doch keine Ahnung. Genauso wenig wie ich.“
„Wir werden nicht nur uns löschen“, sagte Martin scharfsinnig.
Benjamin stöhnte. „Wie soll ich das jetzt schon wieder verstehen?“
„Wir zerstören nicht die Daten, wir zerstören die physikalischen Speicher.“
„Ah, sehr clever. Damit befreien wir also Tausende von Berliner Bürgern aus den Fängen der Arbeitsindustrie.“
„So ist es. Wir sind dann so eine Art Freiheitskämpfer. Ich bin Robin Hood und du Little John!“
„Du meinst wohl andersrum! Du Zwerg!“
„Hehe. Viele, viele Menschen werden diesem Batman dankbar sein, dass er sie vor der Hölle bewahrt hat. Gothham City ist wieder frei.“
„Und alle werden sehen, wie schnell die Menschen wieder gerne arbeiten.“
„Wir werden es an uns selbst sehen“, meinte Martin nachdenklich und strich sich über die Bartstoppeln. „Gleich übermorgen können wir mit der Schufterei anfangen. Weil Geld gibt’s nächsten Monat sicher nicht mehr.“
„Pff. So ne Scheiße. Aber immer noch besser als in Caracas schuften.“
„Das meine ich auch.“ Martin erhob sich mühsam.
Benjamin stand ebenfalls auf. „Ich trinke noch ein Absacker-Bier und dann hau ich mich hin.“
„Nacht.“
In dieser Nacht träumte Martin, man hätte ihn wegen seiner Arbeitslosigkeit ins Ausland verschickt. Plötzlich jedenfalls war er in Argentinien, ohne sich jedoch an den Flug erinnern zu können. Doch es war nicht das Argentinien der Gegenwart, sondern, wie er herausfand – er konnte aus irgendeinem Grund Spanisch -, die spanische Kolonie im 18. Jahrhundert, und er musste in einem Bergwerk schuften und Silber schürfen. Schweißgebadet wachte er auf.
Sämtlicher Alkohol, sämtliches Nikotin waren wie weggeblasen. Er war hellwach. Nur die Angst, die ihn am Abend befallen hatte, hatte ihn noch nicht verlassen. Mit einem schummrigen Gefühl setzte er sich an seinen PC. Es war fünf Uhr. In der Mediathek eines öffentlich-rechtlichen Senders suchte er nach Beiträgen zu den neusten Plänen der Arbeitsagentur. Was er zu Gesicht bekam, verschlug ihm die Sprache: Die Auslandsverschickung von Arbeitslosen hatte schon vor längerer Zeit begonnen. Er fing an, an seinen Nägeln zu kauen. In chronologischer Reihenfolge ging er die Beiträge durch. Erste Meldungen hatte es bereits im Spätsommer gegeben. Allein im Raum Berlin waren bereits um die 200 Arbeitsaussiedlungen durchgeführt worden, in aller Herren Länder. Die Meldung darüber datierte von vor einer Woche. Es gab keinen Zweifel: Sie würden die nächsten sein.
Er kratzte sich unter seiner Boxershorts und stellte fest, dass er Pinkeln musste. Als er wieder aus der Toilette kam, hörte er aus dem Wohnzimmer vertraute Geräusche. Er öffnete die Türe. Benjamin saß vor dem Fernseher und spielte ein Match gegen den Computer. Wortlos setzte er sich daneben und schaltete den Controller an. Während sie spielten, richtete er nur einmal das Wort an seinen Freund: „Hast du es auch gelesen?“ Benjamin furzte und nickte.
Am Morgen wurde Benjamin geweckt, indem man ihm ein nasses Handtuch ins Gesicht schlug. Er bäumte sich im Bett auf und schimpfte seinen Freund ein verdammtes Arschloch .
„Hej, Benni! Weißt du nicht mehr, was heute ansteht“, fragte Martin mit ernstem Gesicht. Er war rasiert und frisiert. Seine Löckchen waren gegelt und nach hinten gekämmt. Ein seltener Anblick.
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