Etwas angeberisch, wenn man solche Etiketten nicht entfernte, aber ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Sein markantes Gesicht zierte ein Dreitagebart und die dunkelbraunen Haare trug er kurz. Auf seiner Nase saß eine schlichte, braun melierte Brille, durch die er mich betrachtete. Ich kam mir richtig schäbig vor; ich trug im Sommer meine Winterstiefel, den Wollmantel über dem Arm. Beide Kleidungsstücke hatten partout nicht mehr in meine Koffer gepasst.
»Sind Sie das erste Mal in San Francisco, Emma?« Die Bedienung reichte uns zwei Tassen über die Theke. Kaffeeduft mischte sich mit dem typischen Geruch einer Flughafenhalle. Kühle Temperaturen, hektische Menschen. Mit unseren Tassen stellten wir uns an einen Stehtisch.
»In Kalifornien ja, doch habe ich nach der Elften ein Jahr lang eine High-School in Colorado besucht.« Ich holte kurz Luft. »Sie sprechen aber ebenfalls ein perfektes Englisch.«
»Ich bin bei einer internationalen Bank in Frankfurt beschäftigt. Oft hab ich hier geschäftlich zu tun. Morgen ist ein großes Meeting in unserer Zweigstelle in der City. Und was führt Sie hierher, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe in Marburg Medizin studiert und werde hier am Memorial Hospital mein praktisches Jahr absolvieren.«
Ich zog merklich die Luft ein, denn dieser Mann nahm mir den Atem. Sein Aftershave kitzelte in meiner Nase und verursachte ein Kribbeln in meinem Bauch. Warum erzählte ich einem fremden Menschen meine halbe Lebensgeschichte? Ich war selbst von mir überrascht. Aber er strahlte auch eine solche Freundlichkeit und Souveränität aus.
»Na, dann auf eine erfolgreiche Zeit. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen meine Handynummer, falls Sie Fragen zu Beginn Ihres Einlebens haben oder bei Gängen zu Ämtern. Ganz unverfänglich, versteht sich. Ich bin mindestens einmal im Monat für ein paar Tage in der Stadt.«
Freundlich schaute mir Michael in die Augen. Er brachte die Tassen an die Theke zurück und bezahlte die Espressi.
»Wenn ich ehrlich sein soll, sehr gerne. Ich komme mir momentan noch etwas verloren vor.« Unsere Wege würden sich nun trennen; ich war etwas zerknirscht bei dem Gedanken. Wir tauschten die Handynummern aus und begaben uns zum Taxistand, direkt vor der Ankunftshalle. Hektik und Lärm empfingen einen. Die Luft war warm und die Sonne hieß uns willkommen.
Michael reichte mir die Hand, während er auf ein Taxi zusteuerte, das bereitstand.
»Ich rufe Sie morgen an, wie es Ihnen so nach dem ersten Tag und der Nacht ergangen ist. Vielleicht haben Sie Lust, mit mir eine kleine Stadtrundfahrt zu machen?« Dieser durchaus liebenswerte Mann blickte mich abwartend an.
Geschmeichelt errötete ich leicht.
»Das würde mich sehr freuen.«
Worauf Michael im Innern des Fahrzeugs verschwand. Ich wartete auf das nächste freie Taxi und übergab meine Koffer dem Fahrer.
»281, Hyde Street, bitte.« Das Gepäck endlich los, zog ich den Wollmantel aus, zerrte meinen Pulli über den Kopf und legte ihn mir leger über die Schultern. Dann stieg ich ein.
Im Auto schlug ich mir gegen die Stirn. Ansonsten war ich nicht so schnell beim Herausgeben meiner Handynummer, aber dieser Mann hatte mich irgendwie magisch angezogen und so vertrauenswürdig gewirkt. Nun war es auch egal.
Nach wenigen Minuten zog die Stadt an meinem Fenster vorbei und vergessen waren Michael, mein altes Leben und der Schatten, der mich seit Jahren verfolgte. Ich kurbelte die Scheibe herunter und sog die Luft ein; eine Mischung aus Gerüchen von Meer und Stadt. Hohe Gebäude wechselten sich mit grünen Parkanlagen und verschieden großen Einkaufszentren ab, dazwischen konnte ich immer wieder einen kurzen Blick auf den Pazifischen Ozean erhaschen. Er schimmerte blau-grau und kleine Wellen tanzten auf dem Wasser. Einige Jachten schipperten gemächlich an der Küste entlang. Palmen und Mammutbäume zierten des Öfteren den Straßenrand. Hastende Menschen wie in jeder Großstadt. Keiner beachtete den anderen, die meisten hatten den Kopf gesenkt. Mittagszeit und vielen war nur eine kurze Pause vergönnt.
Mein Ziel rückte alsbald näher, denn wir fuhren keine zwanzig Kilometer vom Flughafen zum Studentenwohnheim im Norden der Stadt, in unmittelbarer Nähe des Memorial Hospital. Hier sollte nun meine neue Heimat sein, zumindest für das kommende Jahr, bis ich meinen Abschluss als Ärztin in der Tasche hätte.
Die Gegend um die Klinik hatte Vorstadtcharakter; kleine Reihenhäuser oder stattliche Villen säumten nun die Straßen. Der Wechsel vom Zentrum vollzog sich fließend oder ich bemerkte dies letzten Endes vor lauter neuen Eindrücken verspätet. Manche Häuser lagen in parkähnlichen Grundstücken. Zitronen- und Orangenbäume wechselten sich mit haushohen Palmen ab. Es duftete herrlich nach Blumen, gewürzt mit einer frischen Meeresbrise. Wir ließen kleinere Geschäfte hinter uns und der Taxifahrer bog in die Hyde Street ein, was ich im letzten Moment noch lesen konnte. Vor uns lag ein riesiger weiß getünchter Gebäudekomplex mit blau-weiß gestreiften Jalousien an den Fenstern. Gleich auf der Rückseite erkannte ich das Krankenhaus mit zwei Nebengebäuden. Der Fahrer riss mich aus meinen Gedanken.
»Achtzehn Dollar dreiundvierzig, Miss.«
Ich bezahlte ihm zwanzig Dollar und holte mein Gepäck selbst aus dem Kofferraum, da der Fahrer keine Anstalten machte, auszusteigen, um mir zu helfen. Auch egal. Ich rollte erwartungsvoll meine Koffer zum Eingang, denn das helle Gebäude und die Gegend hatten mich in Hochstimmung versetzt. Nach Betreten des Wohnkomplexes schlug mir kalte Luft entgegen, die aus der für meine Begriffe etwas zu kalt eingestellten Klimaanlage blies. Aber das war ich von Colorado schon gewöhnt, draußen oft eine Affenhitze im Sommer und im Inneren der Häuser eine Kälte, dass ich häufig fröstelte. Rechts vom Eingang war ein Empfang. Dahinter saß ein Mann mittleren Alters in Uniform und las. Als er mich erblickte, stand er auf. Freundlich begrüßte er mich.
»Willkommen in San Francisco.«
»Hallo, mein Name ist Emma Ritter. Ich komme aus Deutschland und habe hier ein Zimmer für mich gemietet.«
»Mein Name ist Mr. Lyman und ich bin einer der vier Portiers hier. Ich habe Sie schon erwartet, da Sie heute die einzige Anreisende aus Europa sind.« Seine Miene veränderte sich. »Leider muss ich Ihnen gleich mitteilen, dass Ihr Ein-Zimmer-Apartment wird noch renoviert. Als Ersatz wies man Ihnen ein Zwei-Zimmer-Apartment zu. Das werden Sie sich mit Mrs. Smith für einige Tagen teilen müssen.«
Dem Pförtner war dies sichtlich unangenehm. Ich war irritiert und Unmut breitete sich in meinem Bauch aus. Heute war definitiv nicht mein Tag! Zuerst hatte meine Maschine nach Kalifornien in London Verspätung, dann ging einer meiner Koffer verloren und nun das mit der Wohnung. Anscheinend nach dem Motto ›Alle guten Dinge sind drei,‹ wie Michael schon scherzhaft am Flughafen äußerte, doch es hob meine Laune in keinster Weise.
»Na prima! Ich denke, Sie werden für die Einteilung nicht zuständig und das Haus wird ausgebucht sein?«
»Sie haben recht, wir sind komplett belegt. Es tut mir sehr leid. Die Apartment-Vermietung managt Mrs. O’Hara. Sie ist erst morgen wieder im Haus. Darf ich Sie nach oben bringen und Ihnen das Wichtigste erklären?«
Er wartete meine Antwort erst gar nicht ab, sondern sprach einfach weiter.
»Hier sind die Schlüssel. Der große ist für die Eingangstür unten im Foyer und gleichzeitig der Schlüssel zu Ihrer Kleinwohnung. Der kleinere ist für Ihren Briefkasten hier gegenüber. Von zehn Uhr abends bis sechs Uhr ist die Rezeption geschlossen. Ein Notfalltelefon finden Sie zu Ihrer Rechten.« Er zeigte auf eine riesige Wand voller blauer Hausbriefkästen. Dazwischen hing ein graues Telefon mit einer Infotafel.
Gemeinsam gingen wir zum hinteren Teil der Halle, in der sich vier große Aufzüge befanden. Die Wände waren abwechselnd in Gelb oder Weiß gestrichen, was einen schönen Kontrast zu den Briefkästen darstellte. Der Boden war aus grau meliertem Marmor. Wir bestiegen den mittleren Aufzug, wobei Mr. Lyman es sich nicht nehmen ließ, meinen kleinen Koffer zu tragen.
Читать дальше