„Seine Frau hatte vielleicht weniger Ahnung von seinen Geschäften als Sie als Kirchmeister. Als Pfarrer wird man doch sicher nicht von allen geliebt, da macht man sich doch auch mal Feinde. Gerade in Zeiten knapper Finanzmittel gibt es doch jede Menge Konflikte. Hat er sich mit irgendwem angelegt?“
„Nein, so einer war er nicht. Wenn er sich überhaupt Feinde gemacht hat, dann eher dadurch, dass er den Konflikten aus dem Weg gegangen ist. Ich glaube, er ist Pfarrer geworden, weil er es nur noch mit den Guten zu tun haben wollte. Als er dann feststellen musste, dass es in der Kirche auch gelegentlich sehr böse Menschen gibt, hat er einfach die Augen davor verschlossen. Er war ein Träumer und manchmal hat ihm das jemand übel genommen, weil Missstände einfach nicht angegangen wurden.“
„Wer zum Beispiel?“
„Zum Beispiel der Elternrat im Kindergarten. Es gab da wohl eine Mitarbeiterin, die bei den Kindern sehr beliebt war, aber vom gesamten Team gemobbt wurde. Die Leitung bekam das auch nicht in den Griff. Am Ende hat die Mitarbeiterin gekündigt und musste sich in psychologische Behandlung begeben. Das Kita-Team gilt nach wie vor als äußerst stutenbissig, wenn ich das mal so sagen darf – das muss natürlich unter uns bleiben - und er als Dienststellenleiter müsste da eigentlich Maßnahmen ergreifen, also die Verursacherinnen ermitteln und abmahnen, Teambildungs-Maßnahmen anordnen, seelsorgerliche Gespräche mit Betroffenen führen. Aber er wischte die Probleme beiseite, sagte, das werde alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht würde und renke sich schon wieder ein. Er ging lieber einmal die Woche dort hin, hielt seine Andacht für die Kinder, repräsentierte die Gemeinde bei Festen und betonte im Presbyterium immer wieder, dass er sich als Vorgesetzter hinter seine Mitarbeiterinnen stellen müsse.“
„Wie kommt er mit der Leiterin aus?“, fragte Kerkenbrock.
„Die haben ein gutes Verhältnis. Er ist auf ihrer Seite und sie weiß das zu schätzen.“
„Halten Sie es für vorstellbar, dass Pfarrer Sornig eine Liebesaffäre zu der Kindergartenleiterin oder einer anderen Frau unterhält?“
Der Kirchmeister blickte konsterniert drein. „Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte er.
„Uns sind da Gerüchte zu Ohren gekommen.“
„Ja, so etwas denken die Leute sich gern aus. Es passiert ja auch nicht viel in unserem kleinen, verschlafenen Stadtteil, außer dass im Ghetto nebenan zwei Betrunkene sich gegenseitig verprügeln. Ich denke, Pastor Sornig ist nicht der Typ für so etwas. Meine Hand für ihn ins Feuer legen kann ich natürlich nicht, aber ich denke, da hat irgendjemand eins und eins zusammengezählt und vier herausbekommen.“
„Tja, dann vielen Dank erst einmal. Wären Sie vielleicht so nett, Ihre Finanzen noch einmal gründlich zu prüfen, ob es da irgendwelche Unregelmäßigkeiten gibt?“
„Gäbe es da irgendwelche Unregelmäßigkeiten, wüsste ich es längst, da muss ich nichts prüfen. Pastor Sornig hat so gut wie keinen Zugriff auf die Finanzen, falls sie erwägen, er könne mit der Kollekte durchgebrannt sein.“
Vor dem Abendtermin suchten die Polizeibeamten noch einmal das Präsidium auf und kümmerten sich um einen Teil der sich auf dem Schreibtisch türmenden Verwaltungsangelegenheiten, bevor sie in das besagte Gemeindehaus zurückkehrten.
Die Mitglieder des Kirchenchores trudelten ein und Keller stellte zischend fest: „Was die Damen heute Nachmittag zu wenig im Kopf hatten, ist bei denen hier offensichtlich zu viel.“
„Wie kommen sie denn zu der Schlussfolgerung?“, fragte Kerkenbrock.
„Na, die Omas haben ja schon eine Menge Blödsinn vom Stapel gelassen, aber die hier machen auf mich alle den Eindruck, als wären sie Lehrer, Ärzte, Anwälte, Professoren und so weiter.“
„Bildungsbürger, meinen Sie.“
„Ja genau.“
„Aber warum sollten die mehr im Kopf haben, als ein Mitglied der Frauenhilfe?“
„Weitaus mehr Bildung.“
„Na und? In unserem Land machen Leute Abitur, die eigentlich nicht bis drei zählen können und hochintelligente, problemlösungsbegabte junge Leute fallen durchs Raster unseres Bildungssystems. Diese verbildeten Eingebildeten können bisweilen so blöd sein, dass man nur noch fassungslos davor steht. Warten Sie’s ab. Die Omas eben waren witzig, aber wenn das hier so eine Bachkantaten-Abteilung ist, trinken Sie schnell noch einen Espresso, damit Sie gleich nicht einschlafen. Die Chorleiterin sieht jedenfalls stilecht aus, die habe ich eben schon ausgemacht.“
„Stilecht? Inwiefern?“
„Enger Rollkragenpullover, schlichter Mozartzopf, blasser Teint, ungeschminkt. Steht da vorne mit einem Stapel Noten.“
„Dann sind die vermutlich so mit ihren kulturellen Umtrieben befasst, dass die gar nicht mitbekommen, wenn ihr Pfarrer sich auffällig verhält?“
„Oh nein, Es gibt in jedem Kirchenchor den Bodensatz der Möchte-gern-Bildungsbürger. Leute mit Volksschulabschluss mit einfacher oder auch ohne Berufsausbildung, die gern dazu gehören möchten und sich so geben, sich an ihren Vorbildern orientieren, sie nachäffen, Konzerte besuchen und hinterher darüber reden, obwohl sie sich kaum auskennen, die Lippen pikiert zusammen pressen, wenn ein unflätiges Wort fällt und ihr sauer verdientes Geld in edle, englische Markenkleidung investieren, damit sie genauso aussehen wie der Herr Professor und die Frau des Herzchirurgen und auch mit dem gleichen Respekt behandelt werden. Sie bemühen sich, sich besonders gewählt auszudrücken, benutzen dabei aber die falschen Vokabeln, die sie zu allem Überfluss auch noch verkehrt aussprechen oder mit unpassenden Artikeln und Pluralformen versehen. So ein paar von der Sorte „Ich habe zwar kein Abitur, aber ich bin reich.“, gibt es dann auch noch, meistens Eigentümer gut durchgestarteter Betriebe, die es aus eigener Kraft geschafft haben. Die Männer sind oft nur harmlose, großspurige Schenkelklopfer, aber die Frauen sind die zickigsten Giftspritzen, die man sich vorstellen kann, schlimmer als in jedem vorhersehbaren Groschenroman.“
„Haben Sie das alles in der kurzen Zeit mitbekommen, in der sie ehrenamtlich in der Jugendfreizeitarbeit mitgewirkt haben?“
„Ach was. Meine Mutter hat im Kirchenchor gesungen. Die haben gemeinsame Ausflüge veranstaltet, auf die ich sie als Kind begleiten durfte. Als ich älter wurde, hat meine Mutter dann immer die schärfsten Schoten aus dem Chor zum Besten gegeben. Da gab es oft viel zu lachen.“
„Lassen Sie uns mal rein gehen, bevor die anfangen, sich einzusingen.“
„Hey Keller, Sie kennen sich ja richtig aus!“
Kerkenbrock sprach die Chorleiterin an, die dem Chor die Polizeibeamten vorstellte und ihnen dann die Regie überließ.
Doch in den betont kultivierten Kreisen des Kirchenchores wagte niemand, sich vor versammelter Mannschaft als Tratsch-süchtig zu offenbaren und so ernteten die Beamten nur ratloses Kopfschütteln und Schulterzucken. Erst als sie den Gemeindesaal frustriert verließen, eilte ein hochgewachsener, älterer Herr ihnen hinterher und rief: „Warten Sie einen Augenblick, mir ist da doch noch etwas eingefallen!“
Er stellte sich vor als Hartmut Seliger, er singe seit fünfzehn Jahren im Kirchenchor und kenne den Pfarrer auch aus Gottesdiensten und verschiedenen Gemeindekreisen, die er in den vergangenen beiden Dekaden besucht habe. Herr Seliger räusperte sich sichtlich verlegen, bevor er zur Sache kam: „Also vor ein paar Monaten gab es einen Reihe von Gesprächsabenden zum Johannesevangelium. Da ging es auch um die Sünderin, die beim Ehebruch erwischt worden war und gesteinigt werden sollte. Er brachte das Gespräch auf die Frage, ob es nicht normal sei, zumindest in Gedanken die Ehe zu brechen, so dass ich mich fragte, ob er es nicht schon tatsächlich getan hatte und versuchte, die Gemeinde in sich rechtfertigender Weise darauf vorzubereiten. Ich habe keine Ahnung, ob er eine Geliebte hat, mir ist auch nichts aufgefallen und auf die Gerüchte, die die Kindergartenleiterin betreffen, gebe ich nichts, aber er schien mir schon seit Längerem nicht mehr so recht bei der Sache, als sei er in die innere Emigration gegangen und mit etwas völlig Anderem beschäftigt.“
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