Marga hatte den Ruck in Doktor Zedlers Miene gesehen, als sie das Zimmer betreten hatten. Der Arzt zog eigenhändig den Zipfel der Decke zurück und drückte der Patientin auf den Leib.
»Sie müssen sich bei der Rückbildung mehr Mühe geben«, ermahnte er die Frau. Ohne eine Erklärung erteilte er kurzerhand Marga die Order, Frau Leiden eine Spritze mit Klitsch zu verabreichen. Beflissen notierte die Oberschwester, was der Doktor angewiesen hatte. Später als sie mit der Spritze kam, erzählte sie, wie verblüffend es für sie immer wieder sei, dass Doktor Zedler ohne jegliche Untersuchung den Blutungsstau bei einer Wöchnerin erkenne. Er habe im wahrsten Sinne des Wortes eine Nase dafür.
Vor Lauras Bett bemühte sich Zedler, den Gleichmut in seinen Augen, die Ruhe in seinem Kopf, wiederzugewinnen. »Frau Benz, ich habe gehört, wie entschieden wurde. Ich würde Sie vorzeitig entlassen, wenn ich mir sicher wäre, dass Sie es verkraften.«
»Verkraften? Sie müssen mich entlassen, damit ich es verkraften kann. Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute ist, wenn hier die Säuglinge zu ihren glücklichen Müttern gebracht werden. Warum müssen meine Kinder eine Etage unter mir liegen. Warum können sie nicht hier oben bleiben, solange ich hier bin. Ich könnte zum Stillen runter auf die Kinderstation gehen. Sie haben doch keine ansteckende Krankheit. Nein Herr Doktor, ich möchte, dass Sie mich nach Hause entlassen oder mir meine Kinder wieder hierher bringen lassen.«
Ihr Schluchzen unterdrückte all die Worte, die sie herausschreien wollte und auch wieder nicht, weil ein artiger Mensch wie sie, nicht zu schreien hatte, ohne die ganze Wahrheit zu kennen. Was war die Wahrheit? Was war das Beste für die Kleinen? Durfte sie nur an sich denken?
Doktor Zedler legte seine Hand auf ihre Schulter. Mit ruhiger Stimme bemühte er sich, einen Vorschlag zu machen, einen Kompromiss, den er meistens nie eingehe, wie er erkennen ließ.
»Ich werde Ihre vorzeitige Entlassung vorbereiten lassen. Sie müssen mir versprechen, zu Hause weiter an der Rückbildung zu arbeiten und akribisch die Milch abzupumpen. Wir dürfen das Risiko neuer Komplikationen nicht eingehen.«
Laura nickte. Sie wusste nicht, ob es eine gute Entscheidung war. Schließlich wird sie zu Hause von ihren Kindern noch viel weiter entfernt sein.
»Vertrauen Sie darauf, dass Ihren Mädchen geholfen wird. Doktor Hämplin ist ein ausgezeichneter Arzt.«
Laura ahnte, dass die schlimmste Zeit ihres Lebens beginnen würde. Sie befürchtete auch, dass ihren Kindern die Liebe fehlen könnte, die nur eine Mutter in sich trägt.
Fassungslos stand sie vor dem liebevoll hergerichteten Zwillingsbett mit Decken und Kissen, mit Rüschen und Borten. Der Geruch ihrer Babys täuschte ihre Nase. Sie fürchtete sich vor dem Warten, mehr noch vor einer bitteren Wahrheit. Die Qualen einer Mutter, die ihre überglücklichen Momente des Stillens gegen eine sterile Milchpumpe austauschen muss, konnte Laura niemanden erklären. Sie wollte niemandem zumuten, es hören zu müssen. Ihr ganzes Wesen fühlte sich an, als sei es in eine Zwangsjacke gebunden, die keiner zu entknoten gewillt war.
Tag für Tag lief sie den weiten Weg zur Milchsammelstelle. Jedes Mal ging sie ein paar Schritte weiter bis zum Klinikum, einem imposanten, wenn auch maroden Gebäude im Jugendstil. Wie immer ging sie vom Haupteingang kommend bis in den tiefer liegenden Innenhof und schaute hinauf zum Hochparterre. Da hinter irgendeinem der Fenster lagen ihre geliebten Winzlinge. Wie sehr sehnte sie sich danach, ihnen die Wärme und Hingabe zu schenken, derer sie bedürftig waren.
Wie versteinert stand sie im feuchten Gras des Zwischentraktes und wartete auf nichts als den Schmerz, der sie bedrückte. Leise säuselte der Wind durch die Akazien. Auf sanften Wogen tanzte der süße Duft in alle Winkel des Parks. Außer starrer Traurigkeit empfand sie nichts, nur ihr Kopf bewegte sich ungläubig hin und her. Den Boden unter ihren Füßen spürte sie längst nicht mehr. Es war nicht das erste Mal, dass man hinter den Scheiben stand und sie beobachtete. An diesem Vormittag hatte eine Schwester ein Einsehen. Außerhalb der Besuchszeiten war das zumindest ungewöhnlich.
Durch einen Schleier aus Tränen sah sie verschwommen, wie diese blonde Schwester mit den gewickelten Bündeln im Arm an ein Fenster trat.
Laura sehnte sich so danach, ihre Kinder berühren zu dürfen. Sie wollte endlich den Baby-Duft in sich aufsaugen, die kleinen Händchen halten und mit ihren Lippen liebkosen. Ihre Kräfte drohten sie zu verlassen. Sie sah ihre Kinder und fühlte einen dumpfen Schmerz in ihrer Brust. Sie kämpfte gegen sich selbst, sie wollte stark sein. Doch sie war eine Mutter, deren eigen Fleisch und Blut so unerreichbar in dieser fremden, beziehungslosen Umgebung das Leben zu riechen und zu schmecken begann. Sie wollte schreien: Meine Kleinen, dieses Leben riecht wunderbar! Sie schrie nicht …
Auf der Wiese stand brav und stumm eine Mutter, die nicht glauben wollte, wie hart das Schicksal sein konnte. Sie fürchtete zu entgleisen, in ihrem Schmerz eine Zumutung für andere zu werden. Etwas gab ihr die Kraft, standhaft zu bleiben. Wenn es einen Wächter der Gerechtigkeit gibt, er wird es richten. Leider glaubte sie nicht an Gott. Sie glaubte an die Menschen, mit all ihren guten und leider auch bösen Eigenschaften.
Laura Benz konnte nicht ahnen, dass hinter den bröckelnden Mauern, unter den Augen Gottes, die Wege für eine teuflische Niedertracht bereitet worden sind, die zwanzig Jahre unerkannt blieb …
Ein paar Tage später lief sie mit Till durch den Wandelgang, der die beiden Trakte des alternden, aber immer noch eindrucksvollen Jugendstilgebäudes miteinander verband. Die Schritte hallten vom harten Boden an die kahlen Wände, deren Tristesse vereinzelt von Bildern unterbrochen wurde, Werke heimischer Künstler. Die wenigen Farbtupfer gaben dem trostlosen Ort ein wenig Behaglichkeit und den Künstlern die Chance, ihr Können einem Publikum zu zeigen, das Zeit und Muße zur Betrachtung findet. Till besaß diese Muße von Natur aus nicht, und in Laura drehte sich seit Wochen alles nur um ihre Kinder. Die imposantesten Landschaften, die schönsten Stillleben und die trefflichsten Porträts hätten sie heute keine Sekunde von ihrem Vorhaben abgelenkt.
Zur Kinderklinik im hinteren Trakt gelangte man durch einen kleinen Park, mittig ein liebevoll angelegter Steingarten rund um einen Goldfischteich. Auf einigen Bänken saßen Patienten in Bademäntel gehüllt und mit Hauspantoffeln an den Füßen, das wohlige Gefühl von frischer Luft und Sonne auskostend. Hier fühlten sie sich frei vom Mief der Klinik, vom widerlichen Dunst nach Ethanol und Wofasept.
Dieser Tag war ein warmer Sommertag. Die Freude über den Sommer war für Laura in weite Ferne gerückt. Noch hatte sie einen trüben Weg vor sich, einen erdrückend ungewissen.
Till stemmte sich gegen die doppelte Eingangstür der Station. Im Gang war es düster und ungemütlich. Eine Stimme hinter einem vorsintflutlichen Schalter plärrte, dass sie hier warten müssten und aufgerufen würden. Sie setzten sich auf zwei der vier schäbigen Holzstühle an der Wand. Nichts erinnerte hier an ein Krankenhaus. In ihrem Kummer erschien ihr die Umgebung unheimlich. Auf der anderen Seite des Ganges saß ein zweites Ehepaar und warf sich flüsternd Worte zu, nervende Kleinigkeiten, gegenseitige Schuldzuweisungen. Der enge, fensterlose Raum war nicht dafür geschaffen, das Hadern der beiden zu überhören.
Durch die winzigen Glasscheiben der Eingangstür drang nur wenig Licht. Um nicht auf das Gekeife des Ehepaares zu hören, konzentrierte sich Laura auf die fortwährend pendelnde Zwischentür. Dahinter vermutete sie die Krankenzimmer und sendete heimliche Küsse zu ihren Kindern, auf dass sie ihre Nähe spüren mögen.
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