Es gibt einen wichtigen Grund für Julias Interesse. Sie muss etwas von Selinas Mutter herausbekommen, wenngleich danach das Leben mit ihrem Vater nie mehr so sein sollte wie bisher.
Die Glut glimmt heiß unter dem Rost, aber Selina kommt nicht. Frau Berger, die Mutter von Claas, verabschiedet sich. Im Gehen fällt ihr ein zu fragen, ob man alleine klarkommt.
»Alles paletti, Mom. Gönn dir … «
»Werd ich«, erwidert die Frau auf die jugendliche Floskel. Julia ist erstaunt. Ihre Eltern würden mit dem Slang nicht annähernd umgehen können. Gönn dir? Vater würde sagen: Sprich mal einen vollständigen Satz. Claas wünscht auf diese Weise seiner Mutter viel Spaß, wobei auch immer.
Widerwillig legt Claas die Grillsteaks auf den Rost, Leon öffnet die Korken der Flaschen, die zur Vorsicht im Schatten an der Bungalowwand standen. Die Mädchen füllen Salat in Schalen. Jeder der Freunde riskiert dabei hin und wieder einen Blick zur Hecke, die das Gartentor säumt. Die Stimmung ist nicht nach ihrer Art. Jeder verspürt ein Defizit, das er nicht benennen kann. Nur Jasmin ist aufgekratzt wie stets. Sie plaudert mit Alina. Zwischendurch trällern beide den Klingelton ihrer Handys nach.
Julia wundert sich über Jasmin. Weiß sie nicht, wen von beiden es treffen wird? Zumindest, wenn Mutters Hypothese stimmt und eine Verwechslung vorliegt. Nicht, sofern Vater Till – wie Leon vermutet – doppelte Spuren hinterlassen hat.
Wie es nach zwanzig Minuten weiteren Wartens aussieht, hat sich das Kapitel erledigt. Selina wird die Tragweite der Sache mit ihrer Mutter besprochen haben und es vorziehen, nicht zu erscheinen. Womöglich gab es sogar ein mütterliches Verbot zu kommen … Julia spricht es nicht aus, im nächsten Moment ist sie froh darüber.
»Grüß euch!« Selina Groth steckt ihren Kopf um die Hecke herum. Sie schwenkt eine bauchige Flasche mit rosigem Inhalt. Ein Gejohle erfüllt den Garten. Alle reden durcheinander, jeder bekundet etwas und alles geht auf dasselbe hinaus, wie es Claas am lautesten zuwege bringt.
»Wir dachten schon, du kneifst!«
»Ich dachte, es gibt etwas zu feiern«, erwidert das Mädchen. Es lächelt nicht. Es schmollt nicht. Selina ist heute wieder ernst, wie zuletzt in »Jonnys Dinner«. Julia erkennt bei Tageslicht, dass an der Ähnlichkeit von Selina zu ihr unbedingt etwas dran ist. Wenn auch nicht vollkommen, so doch verblüffend.
Alle durcheinander fragen die Freunde nach Lotta. Selina weicht aus. »Habt ihr mit ihr gerechnet?«
»Aber hallo!«, skandiert Ben, der am letzten Samstag mit Lotta sehr gut umgehen konnte und der keinen Hehl daraus macht, gespannt auf die verrückten Ideen dieses Energiebündels zu sein.
»Dann ist 's ja gut, dann kriegt ihr noch eine weitere Person satt.«
Im allgemeinen Platzeinnehmen greifen alle gierig nach den Tellern. Niemand hört auf Selinas Worte, zumindest scheint die Floskel keiner Beachtung wert. Nur Julia denkt an Selinas Mutter und an die Peinlichkeit, die damit einhergehen kann, wenn sie hier aufkreuzen und mutig von einer Liaison zwischen Papa und ihr sprechen würde. Sie schickt bange Blicke zu Jasmin, aber die ist damit beschäftigt, das würzige Fleisch zu verteilen, weil die Party endlich losgehen kann.
Selina zögert, sich zu setzen. Es scheint, als will sie eine Dankesrede halten, dass man sie so unkompliziert in der Gruppe aufgenommen hat. Die ersten Worte klingen anders:
»Ihr wisst, dass ich etwas bei »Jonny« nicht lustig fand. Ich wollte euch den Abend nicht verderben, vor allem Julia und Jasmin nicht. Deshalb habe ich euch etwas mitgebracht …« Sie dreht sich zum Eingang hin, aber dort ist nichts zu sehen. »Oder besser gesagt: Jemanden.«
»Lotta!«, »Lotta!«, ruft die Menge durcheinander. Alle heben einhellig die Becher.
»Nein«, sagt Selina. Sie hebt ihre Stimme an und spricht sehr laut: »Stella!«
Neben der Hecke erscheint ein Mädchen, dessen Anblick allen die Sprache verschlägt. Sie ist blasser und wirkt im ersten Moment sehr schüchtern, wenngleich sie das pure Abbild von Jasmin ist.
»Stella war letzten Samstag krank. Sie hatte sich auf unserer Geburtstagsfeier einen Virus eingefangen. Keine Angst, inzwischen ist sie wieder fit. Schaut uns an. Merkt ihr nun, was hier los ist …?«
Die Stille und das Staunen über Stella und Jasmin sind größer, als das Wundern über Julia und Selina am letzten Samstag gewesen ist. Alle erkennen das Problem. Über Julias hübsches Mädchengesicht huscht ein Schatten, als schaue sie über den Rand eines unendlich tiefen Brunnens.
Eine Party wird es nicht mehr an diesem Tag. Die Freunde sind ratlos. Bald schwirren die abenteuerlichsten Ideen durch die Köpfe, was mit den Mädchen passiert sein könnte und wie man der Sache auf den Grund kommen kann. Um mehr zu erfahren, braucht man die Eltern. Der Vater von Stella und Selina Groth lebt nicht mehr. Die Mutter hat wieder geheiratet und heißt nun Beyer. Jedoch will sie sich nicht äußern. Soviel bekommt man aus den Mädchen heraus. Man erfährt sogar, was deren Mutter Denise ihnen versichert hat: Sie habe noch nie etwas von einer Familie Benz gehört.
Nach langem Hin und Her bleiben noch die Eltern von Julia und Jasmin. Ob sie je etwas von einer Familie Groth gehören haben, bleibt ebenso fraglich. Diese Dinge, die zu einem Babytausch führen, tragen sich an diffusen Orten, in verqueren Köpfen, oder in gestörten Verhältnissen zu. Das alles ist sehr vage. Solchem Geschehen nach zwanzig Jahren auf den Grund zu kommen, gleicht der Suche nach einem goldenen Fischlein im dunklen Ozean. Über allem steht geschrieben: Will man es überhaupt wissen?
Sie hatte es verdrängt. Sie hatte es nicht mehr wahrhaben wollen. Sie wollte ihren Mädchen zuliebe an nichts Schlimmes denken. Sie wollte Till zuliebe endlich Ruhe geben, obwohl sie ja nie wirklich rebelliert hat, schließlich liebt sie ihre Kinder über alles. Beide. Nun kommen all die Ängste wieder hoch, vehementer als je zuvor, weil es seit einer Woche etwas Greifbares gibt.
Es war ein so schöner Juni-Tag 1982 gewesen.
Die Sonne schien durch die Scheiben des kahlen Zimmers der Entbindungsstation. Von draußen drangen die Laute des Sommers an ihr Ohr. Von nebenan hörte man die zarten Stimmen der kleinen Erdenbürger, die sich ins Leben gequält hatten und noch von den Schwestern versorgt wurden. Einerseits gut, dass die Mütter ein paar Tage Ruhe hatten, andererseits hätte Laura so bald wie möglich ihre eigenen Hände zum Schutz ihrer Zwillinge ausstrecken mögen.
Die Tür zum Zimmer sprang auf, resoluter als erwartet. »Ich bin Chefarzt Groth. Ich möchte mit Ihnen über Ihre Töchter sprechen.«
Vor ihr stand ein breitschultriger, elegant wirkender, fremder Arzt so um die fünfzig, den sie nie zuvor gesehen hatte. Sein dunkles, dichtes Haar schimmerte vereinzelt silbern. Schwere Strähnen fielen zurück in die Stirn und dekorierten das markante Gesicht. Unter seinem Hemd auf der braungebrannten Haut glitzerte eine goldene Kette. Zwischen den Lippen blitzte weiß ein kräftiges Gebiss. Laura fiel sofort ein Motiv für Zahnpasta-Werbung ein. Überglücklich strahlte sie diesen Mann an. Wer, wenn nicht sie, hatte einen schöneren Grund zum Strahlen. Ihre zwei kleinen Mädchen waren schließlich wie aus dem Bilderbuch, proper und süß.
Seine Hand zum Gruß reichte der Mann ihr nicht. Hastig zog er einen Stuhl heran und breitete den Gehschlitz seines Arztmantels pedantisch auseinander.
»Sie wissen, dass Sie eine Risikoschwangerschaft hatten.«
Laura nickte höflich, obwohl sie davon gar nichts mehr hören wollte. Erst recht nicht, seit alles so glücklich überstanden war.
»Wegen Ihrer Toxoplasmose haben wir die Zwillinge augenärztlich untersucht. Das gehört zu unserem Vorsorgeprogramm. Man hat Ihnen meines Wissens in der Beratungsstelle gesagt, dass Toxoplasmose zu Missbildungen bei Embryos führen kann.«
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