Was so gütig begann, hörte sich am Ende eher befehlend an. »Es ist das erste Mal, dass ich so viel Vertrauen in dich setze. Lass es nicht das letzte Mal sein.«
Ihr wässriger Blick erkannte ein Wesen, das sie niemals in Mario vermutet hätte: flehend, bittend, beschwörend. Zu Doktor Hämplin hätte jede der Gesten gepasst, zu Mario Groth nicht.
»Das Leben ist unbarmherzig, Lina. Kein Mensch darf je erfahren, was ich dir jetzt anvertraue.«
Er versicherte, die volle Wahrheit zu sagen, um ihr die Tragweite des Vorhabens klar zu machen.
»Du weißt, dass mein Sohn Ralf qualvoll gestorben ist. Meine Ehe ist damals am Gram meiner Frau Edda zerbrochen. Du weißt auch, dass ich deswegen nie wieder heiraten wollte.«
»Ja, aber nun hast du ... «
»Weil du mich schnöde verlassen hast. Es war deine Schuld, Lina. Nur deshalb steht das gleiche Schicksal wieder so grausam vor mir.«
Wieder war sie der Grund seines Übels.
»Diese Kinder, die da auf eurer Station liegen, sind dem Tod geweiht, genau wie mein kleiner Ralf es war.«
Blitzschnell drehte sie ihren Kopf herum, den sie abgewendet hatte, aus Scham. Warum wusste sie nichts von seinen Sorgen? Sie sah sein Lauern im Blick, was sie bei Mario noch niemals zuvor entdeckt hatte. Mario sprach immer aus, was er für richtig erachtete, ob es sein Gegenüber vertrug oder nicht.
»Ralf ist an den Folgen eines Erbfehlers gestorben. Lina, ich werde das nicht noch einmal über mich ergehen lassen. Nicht noch einmal!«
Wie sollte sie glauben, dass dieser klagende Mann jener über alles erhabene Mario Groth war.
»Wieso bei dieser Frau auch ...?«
»Weil ich den tödlichen Gen-Defekt habe, verstehst du?«
»Was für einen Defekt?«
»Ein Erbfehler, ein Mangel an N-acetyl-Hexosamidase A-Enzym, falls dir das überhaupt etwas sagt. Detlef Baron hatte ihn damals über ein Speziallabor nachweisen lassen. Damals war es zu spät. Einem solchen Kind kann nicht geholfen werden!«
Sie hörte zwar, was er sagte, und sie verstand sehr gut die Tragweite der Worte, konnte sie nicht mit Mario verbinden, und nicht mit dem, was nach ehrlichem Leid klang. Sie dachte nur an ihre kleine Marion, das Liebstes was sie hatte. Marion hatte sie ihm schließlich zu verdanken, aber inzwischen sah es so aus, dass er ihrem Kind diese miesen Gene mit auf den Lebensweg gegeben hat.
»Ich kann das nicht glauben«, flüsterte sie voller Sorge. »Warum hast du nie etwas gesagt …?« Verraten durfte sie sich nicht. Wenn er jetzt etwas von Marion erfahren würde, brächte er sie um, zumindest würde er an Erpressung glauben. Mehr noch. Bei seinen Methoden, Menschen mundtot zu machen, liefe alles auf eine Katastrophe hinaus. Also schob sie rasch nach: »Warum habt ihr nichts dagegen gemacht?«
»Denise weiß nichts davon. Ich bin doch kein verdammter Schwächling, der sich an jeder Litfaßsäule kundtut.«
»Und deine …«, nur schwer bekam sie heraus, was zu fragen war, weil diese blutjunge, schöne Frau der Grund ihres Übels geworden war. »Deine Frau? Warum hat sie nicht ... «
»Willst du mir nun helfen oder nicht.«
Wenn es etwas gab, womit zu helfen war, dann konnte es gegebenenfalls auch ihr nutzen und ihrem Kind. Das war der triftige Grund für ihr Nachgeben …
»Natürlich. Aber was kann ich schon tun?« Sie stotterte vor Angst und Erregung. Er beeilte sich in seinem gewohnten Befehlston:
»Du vertauschst die Kinder Benz und Groth. Sichere ab, dass niemand etwas bemerkt. Lass die Mütter nur von größtmöglicher Ferne an die Kinder heran. Beide Mütter, verstehst du. Nur du betreust die Kinder, wenn maßgebliche Dinge vorgesehen sind. Und achte auf die Papiere. Hast du das verstanden?«
Caroline glaubte, seit Minuten nicht mehr geatmet zu haben.
»Ich soll was …?« Sie kannte das Gefühl, ein Unrecht begangen zu haben, und sie erinnerte sich schmerzlich an seine Art, mit ihr umzugehen. Was er an diesem Tag von ihr wollte, grenzte an ein Verbrechen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
»Das kann ich nicht. Mario, warum tust du mir das an.«
»Kannst du ermessen, was das Leben mir angetan hat? Die Bilder meines todkranken Jungen haben mir in unzähligen Nächten den Schlaf geraubt. Die apathische Miene im aschfahlen Gesicht. Kennst du so etwas? Die Ärmchen durchscheinend wie Elfenbein, demütig über die Brust verschränkt. Die kraftlos tollpatschigen Schritte, bevor die Lähmung ihn in völliger Erblindung erstarren ließ.«
Er konnte immer in drastischen Bildern reden; bedauern konnte sie ihn nicht mehr, die beiden Neugeborenen umso mehr.
»Eine verdammte Ironie des Schicksals!«, hörte sie ihn wie aus der Ferne. »Nicht wahr? Ein Augenarzt, dessen Kind unaufhörlich das Augenlicht verliert, kann nicht helfen, weil er die Ursache nicht kennt. Dann dieses Ende!«
Er legte seine Arme um ihren Hals und bat sie flehend, ihm aus dieser Qual zu helfen. Welches Argument würde gegen seine Selbstherrlichkeit helfen? Es konnte nur selbstherrlich sein, wenn einer Gott zu spielen versuchte. Einen klaren Gedanken zu fassen, gelang ihr nicht, also faselte sie etwas von Menschlichkeit, die sie seit diesem Moment gänzlich an ihm vermisste.
»Ich habe Angst, Mario, dass jemand … dass Doktor Hämplin etwas merkt. Er ist der Letzte, den ich enttäuschen möchte. Irgendwann kommt man dahinter. Und später …? Die Mädchen werden nie ihren Müttern ähneln.«
Als sie den Namen ihres neuen Chefs über die Lippen brachte, grinste er merkwürdig. Er blieb ruhig, sonderbar kühl. »Es ist nicht das erste Mal, dass Säuglinge vertauscht werden.«
Sie klammerte sich an jeden erdenklichen Strohhalm:
»Jede Mutter erkennt ihr Kind.«
»Diese Mütter nicht. Dafür habe ich gesorgt. Noch sieht man bei den Winzlingen keinen Unterschied. Sobald du es getan hast, nehme ich die beiden mit dem Armbändchen Groth sofort nach Hause. Kein Mensch wird etwas merken. Es muss nur sofort sein. Die kranken Kinder werden ein paar Wochen länger auf Station bleiben, dann können die Leute gar nichts mehr merken, das müsstest du am besten wissen.«
Ihr blieb nur, den Blick zu senken und den Kopf zu schütteln, Mario hatte längst ein anderes Argument, das nicht zu widerlegen war: »Die beiden Mädchen werden bei Denise eine sehr gute Kindheit genießen, besser als es diese andere Familie ihnen je geben kann! Die anderen beiden - Denise hat sie Stella und Selina genannt - werden sowieso sterben. Über kurz oder lang …«
Sie weinte, als sie die Namen hörte. In Gedanken sah sie die Bilder der anderen beiden Winzlinge, die sie seit zwei Tagen zu betreuen hatte. Julia und Jasmin Benz. Am schlimmsten war der Gedanke, dass zu den totgeweihten Kindern des Mario Groth noch ein Name dazu kam: Marion Kunz. Sie hatte ihrem Kind die weibliche Version seines Namens gegeben, hoffnungsvoll und ehrlichen Herzens. Bei dem Gedanken, was diesem süßen Kind womöglich bevorstand, wollte sie schreien und brachte doch keinen Ton heraus.
»Niemand wird es je erfahren!«, donnerte seine Stimme über sie hinweg, ungeduldig, vorwurfsvoll ...
20 Jahre danach – Julia und Jasmin
Jasmin lacht schallend. Sie hat ein lautes Lachen, das ihre Fröhlichkeit begleitet. Julia kann auch sehr fröhlich sein. Sie kommt mehr nach Laura, ihrer sanften Mutter. Bisweilen wirkt sie wie die weichgespülte Ausgabe ihrer Schwester. Nie wird sie wirklich laut, nie ist sie zänkisch. Jasmin dagegen gibt immer den Ton an, weiß immer was sie will, aber sie wacht über ihre Schwester, damit sie in dieser lauten, selbstgefälligen Gesellschaft nicht untergeht. Für diesen Teil der Erziehung brauchte es von Till und Laura Benz viel Beispiel und noch mehr Liebe. Die Frage, welche der Töchter es im Leben zu mehr bringen wird, stellt sich die Mutter nicht. Beide Mädchen sind das Wertvollste im Leben von Laura, neben Till versteht sich.
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