»Ich warne dich, wenn es kein Wunder ist, gibst du 'ne Lage!«
Es ist ein Wunder. Es kann nur ein Wunder sein. Claas kämpft sich durch die Tanzenden, steigt über die Beine von Sitzenden und wirft ein Glas Spezi um, das herrenlos auf einem Tisch abgestellt steht. An einer der Säulen lümmelt Alina.
»Wo treibst du dich rum?«, blafft sie ihn an. Ihr suchender Blick nach irgendwem geht starr an ihm vorbei. Er kennt diese Blicke und er hasst diese Frage, die er postwendend zurücksenden könnte.
»Wo ist Julia?«, fragt er mit Schadenfreude im Ton. Sie antwortet nicht und er weiß nicht, wie er Alinas Gleichgültigkeit brechen kann. Freilich hat sie mitbekommen, wie er Julia anhimmelt, über den Grund wird sie weniger nachdenken, wie er Alina kennt. Bevor sie ihm wieder den Rücken kehrt, schiebt sie gnädig ihren aufwändig gestylten Kopf in Richtung der offenen Tür zum Biergarten. Claas versteht.
Jetzt hat er einen Zug in Bewegung gesetzt, kann nicht einfach nur zusehen, wohin er rollt. Er musste der Lokführer sein, so, wie er es sich als kleiner Junge gewünscht hatte, was er seit langem nicht mehr versteht.
Draußen an der frischen Luft stehen sie, all die Leute, die er nur von diesen Partys kennt. Freunde von Alina, Julia und Jasmin, die alle gekommen sind, um den Geburtstag der Zwillinge zu feiern. Sie werden nicht schlecht staunen …
Jasmin rollt ihre Augen, als Claas erscheint. Er nervt, wenn er so klammert, wie Alina immer sagt. Noch hat Claas seinen Satz nicht zu Ende gesprochen, da dreht Jasmin ihm den Rücken zu und raunt den anderen zu: »Spinner«.
»Ich rede keinen Scheiß. Die sieht aus wie Julia - haargenau. Nun kommt schon, sonst kostet mich der Scheiß 'ne Lage.«
Julia hat seit einer Stunde ein schlechtes Gewissen. Sie hat ihm nichts Gutes unterstellt, wenngleich bei diesem Tonfall etwas an seiner Behauptung stimmen könnte. Langsam setzt sie sich in Bewegung. Mit ihr Kim und Finja. Sogar die Jungen Ben und Leon gehen mit, schließlich geht es um eine Lage für lau. Das ist gut, wenn grad Ebbe im Krötensack ist.
Fünf feixende Leute folgen Claas durch die tanzende, trinkende, schwatzende Menge im schummrigen Saal, die im zuckenden Licht bizarre Grimassen wirft. Auf der anderen Seite hinter der Schiebetür ist das Licht weniger aggressiv. Julia fühlt sich gleich besser. Dieses ewige Blitzen hatte sie womöglich aggressiv gemacht. Das war vermutlich der Grund, weshalb sie Claas verärgert hat. Soll er meinetwegen seine Revanche bekommen, was macht das schon.
Claas bleibt dicht vor dem Tresen der Piranha-Bar stehen, an dem kein Hocker frei ist. Zwischen zwei Mädchen stehend dreht er sich gönnerisch um, breitet seine Arme aus und brüllt etwas, was wie ein Tusch klingt, oder ein Jingle für eine aufreizende Werbung. Sein Gesicht ist purer Triumph. Julia ahnt, dass gleich etwas Ekliges passieren wird. Eine Sangria-Dusche, oder eine Biertaufe. Derlei haben die Kerle drauf, wenn eine Party sich festfährt. Sie hatte sich festgefahren, warum sonst haben sie sich alle draußen eingefunden? Die tropische Nacht war nicht der Grund. Hitze wäre das erste Mal …
Unmerklich duckt sich Julia, bemerkt aber, wie Leon rückwärts weicht und an den Pfeiler knallt. Dann hört sie, wie Kim ausruft: »Ich glaube, ich bin im falschen Film.«
Bisher war Julia offenbar im falschen Film, oder Claas hat sie an diesem Abend auf dem falschen Bein erwischt. Jedenfalls versteht sie nichts. Gar nichts. Erst als die anderen eines der Mädchen umringen, es von allen Seiten begutachten. Als Julia schließlich an den Gaffern vorbei zur Tresen gezerrt wird, begreift sie, was es sein könnte. Das Mädchen, von dem sie gerade angestarrt wird, ist ein ähnlicher Typ wie sie selbst. Na und?
Im Gegensatz zu den anderen Freunden bleiben beide cool, auch das Mädchen, das Selina heißt. Sie finden nichts dabei. Erst die Bilder auf den Apparaten der Freunde und deren Euphorie lassen Julia grübeln. Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend. Andererseits, würde Selina nicht zufällig eine annähernd gleiche Frisur tragen, gäbe es keinen solchen Aufruhr.
Claas kommt um seine Lage herum. Niemand ahnt, was ihn dazu bewegt, plötzlich für alle einen Drink zu spendieren. Jeder sieht, wie Claas mit großen Pupillen Julias Doppelgängerin fixiert … offenbar genau sein Beutechema?
Dass es noch eine lustige Party zu werden verspricht, liegt an Lotta, der Freundin von Selina. Das dickliche Mädchen ist ein Ausbund witziger Worte und ein Talent komischer Posen.
Wie machen Ostfriesen Zwillinge? Sie legen Pauspapier dazwischen!
Mit dem Gelächter wird es an der Piranha-Bar etwas lauter. Sogar Julia hält sich den Bauch vor Lachen, obwohl sie Lottas Witze gar nicht lustig findet, ihre Grimassen dagegen umso lustiger.
Es ist der nächste Moment, der Julia sagt, es muss etwas geschehen sein. Unvermittelt in einer heiteren Phase starrt Selina über die Köpfe der Freunde hinweg auf einen Punkt außerhalb der Runde. Ihr Gesicht, das bisher vom Lachen gerötet war, ist auf einmal kreidebleich. Sie steht auf und stammelt Worte wie: »Das find ich jetzt aber nicht komisch.« Niemand achtet darauf, nur Julia, die man prompt neben Selina platziert hat, um jedermann die hammerharte Ähnlichkeit in die Birne zu pflanzen. In dem Moment weiß Julia, dass sie selbst genau Selinas Worte finden würde, wenn ihr eine Sache zu bunt wird: Das find ich aber jetzt nicht komisch. Komisch nur, dass diese Sache ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Jasmin. Sie steht im Raum und beherrscht sofort die Szene. Alle grölen Jasmin die Neuigkeit entgegen, die mit Julia und Selina zu tun hat. Nur Selina Groth bleibt seltsam schweigend, fast wirkt sie verstört. Es dauert nicht lang, da entfernt sie sich und kommt nicht wieder. Offenbar geht sie nach Hause, ohne ihre Freundin Lotta mitzunehmen. Zum Glück hatte es Claas vorher fertiggebracht, die Mädchen für den nächsten Samstag zu seinem Grillfest einzuladen. Dort – so ist man sich nach kurzer Verwirrung schnell einig - will man Selinas Verstimmung wieder glätten. Claas hat eine Idee …
Julia und Jasmin Benz vermeiden, darüber zu reden, was ihre Mutter Laura von der Sache mit Selina hält. Sie hatten vorschnell ihrer Mama die Bilder vom Abend gezeigt. Es liegt zu sehr außerhalb ihrer Vorstellung, es liegt sogar eine Bedrohung in Mutters Worten. Wenn sie Recht hat, dass es vor zwanzig Jahren eine Verwechslung gegeben hat, könnte jemand darauf bestehen, dass die Schwestern irgendwann zwangsgetrennt werden. Mutter sagt zwar, daran dürfte keiner ein Interesse haben. Für ihre Eltern mag das stimmen, aber was ist mit Selinas Eltern?
Zumeist im Leben konnten Julia und Jasmin Benz ihren Eltern vertrauen. Keiner würde eine von ihnen wieder hergeben. Keiner, selbst wenn sich das Furchtbare bestätigen würde, was nach so vielen Jahren ausgeschlossen scheint, ja beinahe schizophren wäre. Die beiden Schwestern wollen auf keinen Fall ihr Zuhause in Frage stellen, zu innig ist ihre Liebe zu Mama und Papa. Unvorstellbar, dass fremdes Blut in einer von ihnen fließt. Dennoch haben beide Angst vor dem Abend, wo sie wieder hautnah mit Selina Groth beieinandersitzen werden. Was, wenn Selina der Sache auf den Grund gehen möchte? Was, wenn sie in ihrer Familie todunglücklich ist? Da stehen die Flausen im Raum, die im Kopf von Leon herumgeisterten. »Für mich gibt es keine Frage. Es kann nur euer Vater gewesen sein, der im fremden Tunnel gegraben hat.«
Die Freunde lachten zwar und sie malten mit schmierigen Worten aus, was Leon meinte und wie sie es sehen, wenn die Alten fremdabchecken .
Dieses Wort und ihr Gefühl sind gleichermaßen abscheulich, dass Julia heimlich den Entschluss fasst, nicht zum Grillabend zu gehen. Sie müsste es Jasmin vorher sagen. Das wäre einer der äußerst seltenen Anlässe, wo die Schwestern nicht gemeinsam aufkreuzen. Andererseits, wenn das mit Papa vor zwanzig Jahren so war, wird Selinas Mutter nichts zur Aufklärung beisteuern … und alles bleibt, wie es ist.
Читать дальше