»Toxoplasmose. Ach wissen Sie …« Sie hatte Mühe, den Worten das nötige Gewicht zu geben. »Ich hatte keine Toxoplasmose, da bin ich sicher.«
»Was macht einen Laien so sicher?« Groths Blicke wurden ärgerlich, beinahe vorwurfsvoll.
»Sie wird von Tieren übertragen, soweit ich weiß. Ich hatte aber nie Kontakt zu Tieren.«
»Laiengewäsch«, sagte er strenger als erwartet. »Es ist schon ein bisschen komplizierter.«
»Ich esse auch kein rohes Fleisch, falls Sie das meinen.«
»Sagen Sie nicht, Sie hätten die Laborbefunde nicht gekannt«, unterbrach er sie. »Laut Akten ist Ihnen der positive Nachweis bestätigt worden.«
»Ja. Positiv«, flüsterte sie, wobei sie den stattlichen Mann musterte. Obwohl er ihre Not erkennen müsste, nahm er keine Notiz davon.
»In der Medizin ticken die Uhren anders.« Während der wenigen Worte zuckten seine Finger so sehr, dass man hören konnte, wie die zwei bombastischen Goldringe an seiner Linken gegeneinander schabten. »Hinter einem positiven Befund verbirgt sich medizinisch das Negative, das ein Leben durchaus nachhaltig zeichnen kann.«
Laura konnte nichts erwidern. Sie biss sich auf die Lippen und schwieg.
»Dieser Erreger, Frau Benz, ist bei vielen Menschen nachweisbar. Er ist für den erwachsenen Menschen nicht gefährlich. Die Entwicklung eines Embryos allerdings kann so gestört werden, dass es zu Missbildungen kommen kann.« Der Arzt räusperte sich. »Kurz gesagt, ich habe mir Ihre Töchter besonders gut angesehen. Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, dazu ist es zu schwierig, das kleine Auge richtig zu untersuchen. Momentan müssen wir davon ausgehen, dass bei beiden eine Veränderung am hinteren Augapfel vorliegt.«
»Um Gottes willen, was bedeutet das?« Ihre Frage glich einem erstickten Schrei. Langsam begriff sie, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag.
»Am hinteren Augapfel entsteht das Bild, das wir sehen. Wenn die Entzündung vernarbt, kann man nicht richtig sehen. Es ist dann, als würde man durch eine zerbrochene Scheibe blicken.«
In diesem Moment konnte Laura sehr gut nachempfinden, was der Mann gerade meinte. Tränen füllten ihre Augen. Dennoch erkannte sie verschwommen, wie sich der Arzt zurücklehnte und seinen Oberkörper straffte, als wollte er eine lästige Verspannung lösen. Laura glaubte nicht erst seit diesem Moment, der Mann schaue durch sie hindurch. Die schonungslosen Worte lösten sich wie ein Buchtext von seinen Lippen. Durch den Tränenschleier versuchte sie, irgendeine tröstende Geste des Mannes zu erhaschen. Vergeblich. Gereizt zuckten seine kräftigen schwarzen Brauen und die Wangenpartie verhärtete sich unter dem Druck seines Gebisses. Als Laura kraftlos zu schluchzen begann, fuhr der Doktor merkwürdig ungeduldig fort:
»Sie können davon ausgehen, dass wir unser Bestes tun werden, Frau Benz. Zunächst nehmen wir Ihre Kinder auf die Säuglingsstation. Dort haben wir die besten Chancen, Klarheit zu bekommen und eine Behandlung einzuleiten.«
Laura hatte sich ihr Leben lang geschämt, wenn sie merkte, anderen Menschen auf die Nerven zu gehen. In diesem Moment war es ihr völlig egal. So einfach konnte sie sich mit der Situation nicht abfinden.
»Wissen Sie, Herr Doktor«, schluchzte sie ebenso erbärmlich, wie sie sich fühlte. »Ich glaube ganz einfach nicht an Toxoplasmose. Ich habe in der Beratungsstelle gesagt, wie ich die Sache beurteile. Warum geht man nicht einmal meiner Theorie nach? Dürfen Ärzte keine Fehler machen? Ist es deshalb?«
»Welche Theorie?«
»Ich hatte in den ersten Wochen der Schwangerschaft eine Überempfindlichkeit. Mehrere Wochen wurde ich auf Station Sechs D behandelt. Ich will mich nicht beklagen. Nein, wirklich nicht.«
Für einen Moment hinderte sie das unkontrollierte Schluchzen daran, sachlich zu berichten. Sie riss sich zusammen, blamieren wollte sie sich nicht. Anklagen wollte sie auch niemanden, aber was sie gehört hatte, war zu schlimm, um an ihre Tugenden zu denken. »Doktor Beyer hat sich sehr engagiert. Allerdings bin ich mit einem Medikament behandelt worden, das nach meiner jetzigen Kenntnis nicht vor der zwölften Schwangerschaftswoche angewendet werden darf. Ich wusste das zu der Zeit nicht und Doktor Beyer muss es wohl übersehen haben. Ich glaube fest daran, dass die toxischen Blutwerte einzig auf dieses Medikament zurückzuführen waren.«
»Wie Sie schon richtig sagten: Theorie.«
Der Tonfall sollte die Sache beenden. Irgendetwas ließ den Arzt eine Weile überlegen: »Hat man den Titer vor oder nach der Hyperosmie festgestellt?«
Laura konnte mit dem medizinischen Begriff nichts anfangen und antwortete rein gefühlsmäßig.
»Später … An Toxoplasmose kann und will ich einfach nicht glauben.«
»Das ist immerhin interessant«, sagte Groth, während sie sprach. Dabei schaute er ein paar Augenblicke zu lange aus dem Fenster. Endlich, dachte Laura, sei das Interesse des Doktors geweckt.
»Ich werde der Sache nachgehen, darauf können Sie sich verlassen.«
Er stand auf, abrupt, wie es Laura schien. Diesmal reichte er ihr seine Hand.
»Frau Benz, wir müssen für Ihre Kinder tun, was in unserer Macht steht. Je schneller wir sind, desto größer sind unsere Chancen. Ich werde Sie unterrichten lassen.«
Leise fiel die Tür des Zimmers ins Schloss, das für zwei Wöchnerinnen ausgestattet war. Laura vergrub sich in den Kissen. Jetzt war sie froh, keine Zimmergenossin zu haben. Ihre Tränen wollten kein Ende nehmen.
Tränen kullerten auf das Blatt Papier, das Laura in ihren zitternden Händen hielt. Es war der Brief an Till, den sie behutsam zusammenfaltete und in die winzige Schublade schob. Man hatte ihr nicht gestattet zu telefonieren. Damit tat man sich zu dieser Zeit in diesem Land noch sehr schwer, nicht nur in dieser Einrichtung.
Gleich sollte die Visite beginnen. Doktor Zedler, der Chefarzt der Entbindungsstation Sechs A, lief durch den Gang zu den Krankenzimmern, eskortiert von zwei Schwestern. Oberschwester Marga geriet außer Puste, zu forsch lief Zedler durch die Gänge zu den Zimmern. Es war ihre Pflicht, den Chef über die Probleme der Wöchnerinnen zu informieren, so auch über die Diagnose der Zwillinge Benz und über Doktor Groths Festlegung. Dass dies alles geschah, als man gerade das Zimmer der Wöchnerin betrat, behagte Doktor Zedler gar nicht.
»Diese Entscheidung hätte ich so nie gebilligt«, sagte er. Es klang vorwurfsvoll. Zedler war verstimmt. Seine dünnwandigen Nasenflügel blähten sich bei jedem Atemzug. »Wieso gab es kein Klärungsgespräch?«, fauchte er, während er in den Unterlagen blätterte. »Es ist nicht wirklich notwendig. Schon gar nicht sofort.«
Die eben noch glänzenden Augen der Schwester weiteten sich, ihre Schultern nahmen den Weg bis zu den Ohren, den ihr kurzer, dicker Hals zuließ. Noch antwortete sie nicht.
»Wir haben an das Wohl der Mutter zu denken. Für die Wöchnerin sind wir verantwortlich. Man hätte der Mutter für die Zeit des Wochenbettes die Kinder lassen können. Sie wären hier unter ärztlicher Kontrolle.«
»Sie sollen mit Prednisolon behandelt werden«, verteidigte Marga Doktor Groth. Er war ihr heimlicher Schwarm, was Laura von Marga am selben Trag erfahren hatte. Und auch das: Sie sei so stolz, dass der Chefarzt mit ihr und nicht mit Doktor Zedler die Überweisung besprochen habe.
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, schnauzte Zedler weiter. »Mit ein bisschen guten Willen hätte Doktor Hämplin zur Verabreichung eine Schwester schicken können. Es sind genau 18 Stufen und fünf Meter Gang bis hier herauf.«
Zedler blätterte in den Krankenakten und murmelte vor sich hin: »Recht haben die Leute, wenn sie von Göttern in Weiß sprechen.«
Inzwischen war das zweite Bett im Krankenzimmer belegt. Doktor Zedler trat sichtbar verstimmt zuerst an das Bett der Frau Leiden, der Gattin des Oberkommissars der Kripo. Frau Leiden hatte im Kreißsaal den Geburtshelfern arg zugesetzt. Nach einigen hysterischen Anfällen war es ihr dann ohne den vehement geforderten Kaiserschnitt gelungen, einem Sohn das Leben zu schenken. Hier im Wochenbett machte sie mit viel Gejammer ihrem Namen alle Ehre.
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