»Hat es Hunger?«, fragte er erneut und zeigte ihr das Stück Sandwich. Dabei achtete er darauf, sich nicht mit der Erdnuss-Soße zu beschmieren.
Die Frau wankte auf die Zellentür zu. »Bitte«, flehte sie. »Bitte!«
Milton warf das Stück Brot durch die Gitterstäbe, und Suzan stürzte sich darauf. Gierig stopfte sie sich die Reste des mit Hühnerfleisch belegten, weichen Brotes in den Mund. Dabei schaute sie ihn von der Seite an, als hätte sie Angst, er wollte ihr das Essen wieder wegnehmen. Von wegen 50 Mal kauen...
Ein Tropfen Soße tropfte der Frau vom Kinn auf ihr T-Shirt. Das hellgrüne Kleidungsstück war nach vielen Wochen hier unten im Keller zu einem löchrigen Fetzen undefinierbarer Farbe geworden. Von »Daddys Darling« keine Spur mehr. Die Pailletten waren längst abgefallen und lagen auf dem schmutzigen Boden verstreut wie tote Fliegen. Die Jeanshose schlotterte ihr an den Beinen. Wenn sie stand, musste sie die Hose am Bund festhalten; sonst wäre ihr das dreckige Kleidungsstück von der Hüfte gerutscht. In den vergangenen Jahren hatte die Frau stets Mühe gehabt, ihr Gewicht in den Griff zu bekommen, doch auf eine solche Diät hätte sie gerne verzichtet. Unter Miltons Gastfreundschaft hatte sie bestimmt zwölf Kilo abgenommen.
»Es sieht aus wie eine Vogelscheuche«, sagte Milton mit dem angewiderten Unterton eines Menschen, der sich im Restaurant über eine Schnecke im Salat beschwert.
Die Frau kaute weiter. Sie hatte es aufgegeben, zu verstehen, was mit ihr geschieht. Zunächst hatte sie die Schuld an ihrer Misere bei sich gesucht. Was habe ich falsch gemacht? Kenne ich diesen Menschen? Habe ich ihm etwas getan? Habe ich jemandem etwas getan, den er rächen will? Warum tut er mir das an? WARUM? Die unbeantwortete Frage nach dem warum war am schlimmsten.
Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, dumm zu sterben. Sie würde diese Zelle nicht mehr verlassen, das wusste sie. Die Wochen in Dunkelheit und Gestank hatten sie zermürbt.
»Es riecht nicht gut«, übte sich Milton weiter in Komplimenten. Er drehte sich ab und wand sich der nächsten Zelle zu.
Darin saß das Brünette mit den Locken. Er hatte es erst vor wenigen Tagen gefangen.
»Es stellt mir den Eimer hier hin«, befahl Milton.
»Fick dich!«, kam es aus der Dunkelheit der Zelle. Milton leuchtete in den kleinen Raum und sah etwas auf sich zufliegen. Der Plastikeimer prallte vor die Gitterstäbe, und ein Schwall mit Urin vermischtem Kot spritzte auf Miltons Kleidung und in sein Gesicht.
»Hahahahah! Hier hast du, was du brauchst, du krankes Arschloch!«
Wortlos wischte sich Milton mit der Hand den gröbsten Schmutz aus dem Gesicht und ging zum Wasserhahn. Er drehte ihn auf, und ließ einen dünnen Strahl Wasser aus dem Schlauch über seine verschmutzte Hand laufen. Als sie halbwegs sauber war, bückte er sich und hielt sein Gesicht unter den Strahl. Er wusch sich, bis das kalte Wasser auf seiner Haut schmerzte. Er drehte das Wasser ab, zog eine Packung Papiertaschentücher aus der Hosentasche und wischte sich mit den Tüchern über das Gesicht. Anschließend holte er einen Hochdruckreiniger aus der letzten Zelle vor der Bunkerwand, löste den Gartenschlauch vom Hahn und befestigte den Wasseranschluss des Geräts daran. Glücklicherweise hatte Opa Norman hier unten auch für Strom gesorgt, als er damals das Haus inklusive Keller und Bunker baute. »Danke, Opa Norman«, flüsterte Milton.
»Was hast du gesagt?«, wollte das Brünette wissen. Es stand inzwischen direkt an der Gittertür und hielt die Stäbe mit beiden Händen umklammert.
»Was machst du da, Arschloch?«, fragte es.
Milton antwortete nicht. Er drehte sich um und hielt die Düse des Hochdruckreinigers in der Hand. Er schaltete das Gerät an, und ein dumpfes Brummen erfüllte den Bunker. Milton stellte das Drehrad auf volle Kraft und drückte einen Hebel am Handstück des Reinigers. Es erinnerte an den Abzug an einem Gewehr.
Milton zielte auf den Kopf der Frau und erwischte sie am Ohr. Sie schrie auf und versuchte, ihr Gesicht vor dem scharfen Strahl zu schützen. Milton visierte ihren Busen an und traf das weiche Fleisch. Der Strahl war hell und hart wie ein Stahlrohr. Sie schrie erneut. Milton lächelte. Er richtete den Wasserstrahl weitere fünf Minuten auf die wehrlose Frau, die inzwischen so weit von ihm weggerückt war wie möglich, bis ihre Schreie nur noch ein Wimmern waren. Sie klang wie ein Fuchs, der mit seiner Pfote in eine Falle geraten und nun damit beschäftigt war, das eingeklemmte Körperteil abzubeißen.
Milton schaltete den Hochdruckreiniger auf die schwächste Stufe und spülte Kot und Urin aus ihrem Eimer in den Abfluss. Er schaltete das Gerät komplett aus, drehte das Wasser ab, blies die Petroleumlampe aus und stieg die Holzleiter wieder hoch. Oben angekommen, hievte er die Klappe auf die Öffnung und verschloss sie. Unter ihm stieß das Rothaarige einen verzweifelten Schrei aus, doch davon drang kein Laut aus dem Verließ.
»Wieso macht es so etwas«, fragte sich Milton. Er stand bereits seit einer halben Stunde unter der Dusche und schrubbte die Haut mit einem Schwamm. Sein Körper war krebsrot, sowohl vom heißen Wasser als auch von der Schrubberei. »Wieso ist es so garstig?« Dabei wusste er es genau. Lässt die Wirkung der hallozinogenen Droge nach, die er den beiden Frauen verabreichte, konnte sie bei manchen Probanden zu einem Flashback übersteigerter Aggression führen. So etwas geschah gar nicht mal so selten. Die Literatur sprach von einem unter hundert Fällen. Daran hätte ich denken müssen, dachte Milton. Wieso war ich auf die Nebenwirkung nicht vorbereitet? Er ärgerte sich über sich selbst.
Milton drehte das Wasser ab. Der Strahl war weder so kalt noch so hart wie bei seiner Folter unten im Keller, doch darüber dachte er im Moment nicht nach. Er fragte sich vielmehr, ob tatsächlich alle Kot- und Urinpartikel aus seinen Haaren verschwunden waren. Er drehte das Wasser wieder auf und massierte sich zum fünften mal einen Klecks Shampoo in die Haare.
Als er 20 Minuten später aus dem Badezimmer kam, eingehüllt in einen flauschigen Bademantel aus Frottee, bemerkte er, dass die Zahl eins auf seinem Anrufbeantworter blinkte. Lionel wollte wissen, ob er nicht Lust hätte, morgen mit ihm und Harold ein paar Partien Jenga zu spielen. Milton überlegte kurz. War er morgen in Stimmung dazu? Er zuckte die Achseln. Warum nicht? Er öffnete das Fach seines Schranks, in dem er Brett-, Karten- und sonstige Gesellschaftsspiele aufbewahrte, und griff nach der Verpackung des Jenga-Spiels. Er legte es auf den Tisch und daneben eine Schutzbrille. Er hatte die theoretische Möglichkeit berechnet, sich beim Herabfallen der Holzklötzchen eine Augenverletzung zuzuziehen, und das Ergebnis hatte ihn beunruhigt. Er überlegte, seinen Helm aus Hartplastik zu holen, verwarf den Gedanken daran jedoch. Nicht übertreiben, dachte er. Die Schutzbrille sollte genügen.
Zufrieden mit seinen Vorbereitungen für den morgigen Spieleabend, setzte er sich an seinen Laptop und verfasste einen weiteren Eintrag seines Logbuchs. »Werde die Ernährung umstellen. Probanden benehmen sich wie Tiere im Käfig. Umstellung auf Tiernahrung«, schloss er seine Notizen. »Ende Logbuch-Eintrag 430.« Er öffnete ein anderes Programm.
»Warum willst du nicht mit mir reden?« Die Frau mit den braunen Haaren stand an der Gittertür und umfasste die Stäbe mit beiden Händen. »Ich bin Yvonne. Sprich mit mir, sonst werde ich noch wahnsinnig! Ich weiß doch, dass du da bist!«
»Psst! Sei leise«, antwortete die andere Frau und zischte die Worte dabei durch ihre Lippen. »Er kann uns beobachten. Irgendwo hier hat er eine Kamera installiert.«
»Es ist doch stockdunkel! Wie will er da etwas erkennen?«
»Du hast ja keine Ahnung! Die Kamera kann auch im Dunklen alles aufzeichnen. Wie ein Nachtsichtgerät. Außerdem hört er, was wir sagen. Das reicht schon.«
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