Ein Geräusch riss ihn aus seiner Konzentration. Ernie und Bert fauchten sich an, seine beiden Halsbandleguane. Milton blickte zu dem Terrarium. Er hatte die Echsen nach dem Tod seiner Großmutter gekauft, als er sich in dem großen Haus einsam fühlte. Zunächst dachte er an etwas kuscheligeres wie einen Hamster oder ein Kaninchen. Oder an eine Katze. Doch je intensiver er darüber nachsann, desto unangenehmer erschien es ihm, das Fell eines Nagetiers zu berühren. Oder das eines Tieres, das sich den eigenen Hinterausgang sauberleckt.
Während er ein Mikrowellengericht in sich hineingeschaufelt hatte, ohne den Geschmack des Hackbratens mit Kartoffelbrei zu identifizieren, hatte er gelangweilt durch die Fernsehprogramme geschaltet und war bei einem Beitrag über Reptilien hängengeblieben. Fasziniert beobachtete er, wie ein Leguan in den Kopf einer Gottesanbeterin biss. Das nahm ihn sofort für die schuppigen Tiere ein. Am nächsten Tag ging er in die Zoohandlung und kaufte Ernie und Bert. Er hatte zunächst andere Namen für die beiden Reptilien auswählen wollen. Pierre und Michelle Curie kamen in die engere Wahl, doch Milton war nicht völlig von ihrer Genialität überzeugt, weil sich die beiden Physiker 1903 ihren Nobelpreis mit Henri Becquerel teilen mussten. Dr. Jekyll und Mr. Hyde kamen nicht in Frage, weil er eines der Tiere nicht beleidigen wollte, indem er ihm den akademischen Grad verweigerte. Mr. Spock und Captain Kirk erschienen ihm zu vermessen. An James Watt und Isaac Newton war eigentlich nichts auszusetzen, doch dann war er beim Zappen mit der Fernbedienung bei einem Sender hängengeblieben, der eine alte Folge der Sesamstraße zeigte. Milton verfiel in eine Art sentimentale Schockstarre. Er dachte daran, wie er gemeinsam mit seiner Oma auf dem Sofa gesessen, Erdnussflips geknuspert und die Abenteuer von Bibo, Oscar, dem Krümelmonster und Ernie und Bert geschaut hatte. Und damit standen die Paten für die beiden Leguane fest.
Milton starrte auf den Bildschirm seines Rechners, blickte jedoch durch ihn hindurch. Seine Gedanken schweiften ab. Soll ich heute Abend noch füttern?, fragte er sich. Er überlegte kurz und entschied sich dann dagegen. Seine Gäste hatten ihn verärgert, und das sollten sie zu spüren bekommen.
Sein Blick wurde wieder klar. »Heute Abend keine Fütterung. Ende Logbuch-Eintrag 429«, schrieb er in sein digitales Tagebuch.
Er speicherte die Datei und verschlüsselte sie mit einem Programm, das er selbst geschrieben hatte. »Gib der NSA keine Chance«, murmelte Milton und schaltete den Rechner aus. Er ging zu dem Terrarium und beobachtete die beiden Leguane. Ernie und Bert fauchten erneut. Ernie stellte außerdem seinen Rückenkamm und die Kehlwange auf.
Milton schraubte eine kleine Dose auf, die neben dem Terrarium stand, griff hinein und nahm eine Hand voller getrockneter Heuschrecken heraus. Er öffnete den Deckel des Glasbehälters und ließ die toten Insekten aus der Hand gleiten. Ernie und Bert packten ihre Nahrung mit den Zähnen und begannen zu kauen. Reglos stand Milton vor dem Terrarium und beobachtete das Mahl der Reptilien. Wie Drachen ohne Flügel, dachte er und schüttete die Reste seines eigenen Essens in einen roten Plastikeimer. Er versiegelte ihn mit Klarsichtfolie, um unangenehme Gerüche zu vermeiden, und verstaute ihn unter der Spüle in der Küche. Heute Abend keine Fütterung.
Suzans Kopf schmerzte wie nach einer Nacht mit zu vielen Cocktails und Joints. Sie fasste an ihre Brust und spürte eine feuchte Masse zwischen ihren Fingern. Sie hob die Hand an die Nase und sog die Luft ein. Sauer. Kotze, dachte Suzan und kratzte das Erbrochene mit den Fingernägeln von ihrem Hemd. Dabei verspürte sie keinen Ekel. Darüber war sie längst hinweg.
Aus der Nachbarzelle hörte sie ein Geräusch. Es klang so ähnlich wie die schlurfenden Schritte des rieseigen Wesens. Dann eine Stimme, unverkennbar von einer Frau. »Was war das?«
Suzan antwortete nicht.
»Antworte doch. Bitte! Was war das?«
Keine Reaktion.
»So einen widerlichen Gnom habe ich noch nie gesehen.«
Gnom?, fragte sich Suzan. Wieso Gnom?
»So einen hässlichen Zwerg kann es doch gar nicht geben. Hast Du sein vernarbtes, entstelltes Gesicht gesehen? Es sah aus wie verbrannt.« Die Frau in der Nachbarzelle hörte nicht auf zu reden. »Ich bin irgendwann vor Schreck in Ohnmacht gefallen. Sprich mit mir. Bitte!«
Von wegen Zwerg, dachte Suzan. Der Typ war so groß wie ein Yeti. Sie sagte kein Wort.
Wieso habe ich einen Riesen gesehen, das andere Mädchen aber einen Zwerg?, fragte sie sich. Ihr war klar, dass es sich um einen grausamen Trick des Wahnsinnigen handeln musste. Hatte er sich verkleidet und auf Stelzen gestellt? Doch wie konnte ihre Leidensgenossin dann von einem Gnom sprechen?
Suzan überlegte. Langsam ließ der Kopfschmerz nach, und sie konnte klarer denken. Ihr fiel ein Film ein, den sie vor ein paar Monaten im Pay-TV gesehen hatte. Es war ein Batman-Movie. Der Böse hieß Scarecrow und setzte seine Opfer mit einem speziellen Gift unter Drogen. Unter dem Einfluss der Droge sahen sie Dinge, die er ihnen einredete. Und noch etwas fiel ihr ein. In einer Folge der TV-Serie »Sherlock Holmes« war ähnliches passiert. Ein Nervengift brachte Menschen dazu, einen riesigen Hund zu sehen. So eine Teufelei musste auch er angewendet haben. Der Wahnsinnige. So musste es sein.
Suzan richtete sich auf und kroch durch die Zelle. Ihre Hand stieß an etwas Weiches. Sie zuckte zurück und griff erneut danach. Sie führte ihren Fund an ihre Nase. Es war der Rest von ihrem Hamburger. Die Gewürzgurke klebte noch daran, doch das konnte Suzan nicht erkennen, denn sie sah die Hand vor Augen nicht.
»Hallo? Sag doch was, bitte!«
Die Frau aus der anderen Zelle. Suzan antwortete nicht. Aus gutem Grund. Sie biss in den Hamburger und schmeckte die Säure der Gurke.
»Hallo Nerdlinge, wie war euer Tag?« Harold stellte sein Tablett mit dem Mittagessen aus der Kantine auf dem Tisch ab, an dem Milton und Lionel bereits Platz genommen hatten. Er setzte sich und begann, Käsemakkaroni in sich hineinzuschaufeln.
»Harold, du Heimkind! Friss doch nicht so! Und mach den Mund zu! Wird das jetzt zur Gewohnheit? Niemand nimmt dir etwas weg.« Lionel hielt sich demonstrativ die Hand vor die Augen.
»Ich habe drei Brüder und zwei Schwestern. Unser Mittagessen war ein täglicher Kampf um jede Kalorie.«
»Da hast du wohl nur selten etwas auf die Gabel bekommen«, meinte Milton und spielte damit auf Harolds Körpergröße an. Leicht hätte er als Jockey durchgehen können. Er war knapp 1,65 Meter groß und wog nicht viel mehr als eine Kiste Cola. Mit seinem helmartigen Haarschnitt erinnerte er an Ringo Starr, was ihm bei seinen Kommilitonen den Spitznamen »Walross« eingebrockt hatte: Als Gegenteil seiner dürren Statur zum einen und in Anlehnung an den Beatles-Song »I am The Walrus« zum anderen.
»Aber um auf deine Frage zu antworten«, begann Milton und tupfte sich mit der Papierserviette einen Fleck Ketchup von seinem Mundwinkel. Er seufzte. »Katastrophal!« Milton schob sein Tablett in die Tischmitte. Er hatte seinen Salat kaum angerührt. »In meinem Kurs sitzen nur dumme Menschen. Keine Ahnung, wie aus ihnen mal Chemiker werden sollen.«
»Sei nicht so streng. Es sind alles Erstsemester. Vor ein paar Wochen haben die meisten von ihnen noch für ihren Schulabschluss gebüffelt. Da schau.« Lionel zeigte auf die lange Schlange vor der Essensausgabe. So voll war es in der Mensa nur in den ersten Wochen nach Semesterbeginn. Erfahrungsgemäß dauerte es nicht lange, bis die neuen Studenten Käse-makkaroni, Hamburger mit Pommes frites und Salat mit Joghurtsauce satt hatten. Die Mensa der University of New England war nicht gerade ein Gourmet-Tempel.
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