„Bleiben Sie ruhig, sonst kann ich Sie nicht loskriegen“, schrie René ihm zu. René holte sein Messer aus der Halterung und versuchte damit das Seil zu durchtrennen.
„Bleiben Sie ruhig, ich kann Sie nicht losschneiden“, rief er erneut und versuchte weiter, den Mann zu befreien. Endlich hatte er ihn von der Leine getrennt. Louis zog ihn auf Renés Zeichen an das Schiff heran und hievte ihn mit Hilfe eines weiteren Kollegen an Bord. In diesem Moment wurde das Segelboot von einer enormen Welle getroffen und in die Tiefe gezogen. Im nächsten Augenblick tauchte es mit großer Geschwindigkeit wieder an der Oberfläche auf. Der gebrochene Mast schnellte aus dem Wasser und traf René am Kopf. Er verlor die Besinnung. Louis hatte alles vom Schiff aus beobachtet und zog verzweifelt an dem Rettungsseil, mit dem sein Freund und Kollege befestigt war. Auch der Kollege, der den Schiffbrüchigen inzwischen ins Innere des Schiffes gebracht hatte, eilte herbei und half, René aus dem Wasser zu holen.
René Audic war immer noch bewusstlos, als er wieder an Bord war. Der Notarzt war per Funk verständigt worden und erwartete sie an der Trévignon. René atmete noch. Blut trat aus seiner Wunde am Kopf. Louis sprach mit ihm. Keine Antwort! Seine Bewusstlosigkeit ließ eine ernsthafte Verletzung vermuten. Bis in den Hafen brauchten sie mehr als eine halbe Stunde. Sofort nach ihrer Ankunft wurde René mit dem Notarztwagen in die Klinik nach Concarneau gebracht. Die sofort eingeleiteten Notfallmaßnahmen und Untersuchungen konnten das Leben von René Audic nicht mehr retten. Das Meer hatte ein neues Opfer gefunden. René hinterließ eine Frau und einen einjährigen Sohn. Der Havarist überlebte und konnte das Krankenhaus bereits nach drei Tagen verlassen. Noch in der Klinik telefonierte er mit seiner Bootsversicherung. Er deklarierte seinen Schaden und beantragte die Erstattung für seinen Verlust. Bereits am Tag seiner Entlassung orderte er ein neues Boot. An den Tod seines Retters verschwendete er keinen Gedanken. Er hatte nicht einmal nach seinem Retter gefragt, kein Dankeschön für die Rettung ausgesprochen.
Jean Audic ließ sich die letzte Woche noch einmal durch den Kopf gehen. Der Tod seines Sohnes war eine Tragödie. Sein Enkel würde jetzt ohne Vater aufwachsen, und er konnte nicht sagen, wie lange er seiner Schwiegertochter und seinem Enkel noch helfen konnte. Er war über 70 Jahre alt, da konnte es auch ganz schnell zu Ende gehen. Natürlich hoffte er, dass der liebe Gott ein Einsehen mit ihm hätte und ihm vielleicht noch zehn oder mehr Jahre geben würde, dann könnte er seinen Enkel und seine Schwiegertochter eine Weile lang unterstützen. Sie konnten jeden zusätzlichen Euro gebrauchen. Dieser wohlhabende und arrogante Schnösel hatte überlebt, während sein Sohn bei dessen Rettung sein Leben verloren hatte. Jean wandte sich um und machte sich auf den Heimweg. Sein Haus in Kerfany war zu klein, um als gemeinsamer Wohnraum für seinen Enkel und seine Schwiegertochter zu dienen, dachte er auf dem Rückweg. Es war ein Fischerhaus, wie man sie früher gebaut hatte. Für sein restliches Leben reichte es aus.
Paul Malencourt plante, nur noch vier Tage in Névez zu bleiben. Sein Haus in der rue Park Nonn wäre danach wieder zwei Monate lang verlassen. Er wollte noch mindestens fünfzehn Jahre arbeiten, bevor er die Geschäfte vollständig auf seinen Sohn übertrug. Stahlhandel war ein einträgliches Geschäft rund um Paris. Die Bauindustrie hatte Aufträge über Aufträge und konnte beinahe nicht mehr allen Anfragen nachkommen. Sein Baustahl war gefragt und wurde benötigt. Die Firma, ursprünglich von seinem Vater gegründet, gehörte zu den ersten Adressen. Entsprechend waren seine Umsätze und sein Verdienst. Seinen Sohn hatte er frühzeitig in die Geschäfte eingeführt, so dass er sich durchaus mehrfach im Jahr einen längeren Aufenthalt in der Bretagne erlauben und seinem Sohn die Führung der Firma überlassen konnte. Seine Frau war vor zehn Jahren verstorben, er gestaltete seine Aufenthalte alleine. Das Haus pflegte eine Frau aus Névez, die regelmäßig zum Putzen kam. Sie kümmerte sich bei Bedarf auch um das leibliche Wohl bei kleineren Partys, war im Haus anwesend, wenn der Partyservice die gewünschten Speisen brachte und sorgte für die Bedienung der Gäste. Partys gab es bei Malencourt selten, höchsten ein oder zweimal im Jahr.
Geld spielte in seinem Leben keine Rolle, er hatte es und zeigte das auch mit seinem Ferrari. Er gehörte zu den geizigsten Menschen, wenn es um die Bezahlung von Rechnungen ging. Heute hatte der Briefträger ihm die Rechnung der Seenotrettung zugestellt. Die Herren erlaubten sich doch tatsächlich, für ihre Aktion, die bestimmt keine zwei Stunden gedauert hatte, einen Betrag von 400 Euro zu berechnen. Ein Erschwernissaufschlag von 180 Euro wegen des Sturms war auch aufgelistet. Paul Malencourt tobte innerlich und war nur zähneknirschend zur Überweisung der geforderten Summe bereit. Wäre dieser Sturm nicht aufgekommen, hätte er diese Halsabschneider bestimmt nie gebraucht. 400 Euro für eine einzige Rettungsaktion erschienen ihm überteuert. Für diesen Preis verkaufte er vier Baustahlmatten von sechs Metern. Dass es sich bei der Rettungsaktion um sein Leben gehandelt hatte, hatte er entweder vergessen, oder sein Leben war ihm keine 400 Euro wert. Dass ein Mensch für seine Rettung sein Leben verloren hatte, hatte er ebenfalls völlig aus seinem Gedächtnis gestrichen. Dafür waren die Leute schließlich da, wenigstens sah er es so.
Paul Malencourt stieg in seinen Ferrari und fuhr nach Bénodet. Im dortigen Casino war er ein gern gesehener Gast. Auch wenn er schon größere Beträge gewonnen hatte, er hatte auch schon viel Geld dagelassen. Das Casino öffnete bereits um 10 Uhr und schloss um 2 Uhr. An diesem Nachmittag würde er ein oder zwei Stunden lang seinem Zeitvertreib nachgehen können. Das Glücksspiel gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Ursprünglich hatte er sich überlegt, ein Haus oder ein größeres Appartement in Bénodet zu erwerben. Aber er hatte die Gefahr gesehen, zu oft ins Casino zu gehen. Daher hatte er sich für ein Haus in Névez entschieden, ein gutes Stück von Bénodet entfernt. Echte Spielsucht hatte er noch nicht entwickelt. Er gab sich ein Limit bevor er das Casino betrat, und dieses Limit überschritt er niemals. Verlor er den ausgesetzten Betrag, war sein Besuch für diesen Tag beendet. Gewann er, dann blieb er auch schon einmal etwas länger. Für den heutigen Besuch hatte er einen Betrag von 5.000 Euro vorgesehen. An der Kasse ließ er sich die entsprechende Menge Chips geben, wobei er eine Stückelung in kleinere Werte verlangte. Dann setzte er sich auf einen freien Stuhl und platzierte eine größere Zahl Chips auf die Null und auf die Sieben. Das waren seine Glückszahlen. Schon die erste Kugel landete auf der Null, und der Croupier schob eine Menge Chips zu ihm hinüber. Er spielte jetzt entspannter weiter, hatte sich sein Finanzpolster doch bereits mit dem ersten Einsatz beträchtlich erhöht.
Nach drei Stunden verließ er das Casino. Aus den 5.000 Euro waren 62.000 geworden. Damit hatte er schon ein Viertel des Kaufpreises für seine neue Yacht gewonnen. Noch drei Casinobesuche mit einem solchen Ergebnis, und der Kauf seiner neuen Yacht wäre kostenneutral. Hoch zufrieden und mit gewissem Stolz verließ er das Casino und ging zu seinem Ferrari. Den Umschlag mit seinem Gewinn warf er beinahe achtlos auf den Beifahrersitz, gurtete sich an und startete den Motor, der mit seinem unverkennbaren Sound einer Symphonie gleichkam. Das Leben war großartig, wenn man es sich leisten konnte. Darunter verstand er die Erfüllung seiner materiellen Wünsche. Er lehnte seinen Kopf fest an die Nackenstütze und drückte das Gaspedal kräftig durch. Der Wagen machte einen Satz. Paul ging vom Gas und verringerte die Geschwindigkeit etwas. Er wollte nicht von der Gendarmerie gestoppt werden. Mit deutlich reduziertem Tempo folgte er der Straße in Richtung Concarneau.
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