1 ...6 7 8 10 11 12 ...30 Dann ist auch schon November 1990, ich zitiere an dieser Stelle einen Ausschnitt aus meinem Tagebuch: Donnerstag, 15. November 1990, ... es ist kaum zu glauben, wie die Zeit vergeht und ich habe das Gefühl, je älter man wird, umso schneller vergeht diese Zeit. Nun bin ich schon fast ein Jahr in Domstedt, es ist jetzt 16.48 Uhr, draußen ist es bereits dunkel, ich habe mir einen Glühwein gemacht und in meinem Büchlein gelesen, einfach so. Im Moment bin ich allein, ... außer Miss. Elli, sie liegt mit mir auf dem Sofa, mal sieht es so aus als ob sie schläft, aber dann schielt sie mich wieder von der Seite an. Udo ist Gott sei Dank auf Arbeit, Carlo schnöpert mit Raffael draußen umher und Henny kommt erst Ende November wieder. Manchmal warte ich dennoch verzweifelt auf den Kredit, der so händeringend nötig wäre, denn nun wird alles langsam sehr knapp, aber glauben daran tue ich schon lange nicht mehr. Wiedermal muss ich an Lohra denken, vor allen Dingen an meine schöne Wohnung mit der gemütlichen Sofaecke, in der ich oft im Winter gesessen habe um Tagebuch zu schreiben, oder meine Post zu erledigen. In der warmen Jahreszeit saß ich in jeder freien Minute auf meinem Balkon, wenn ich nicht gerade mit den Kindern unterwegs oder in St. Josef war. Manchmal, wenn ich die Augen schließe höre ich in meiner Phantasie die Patienten oder Mitarbeiter auf dem Flur entlang laufen oder die „Bomben“ im Urinlabor scheppern. Ich denke sehr oft an mein Labor, den Kaffee morgens um halb sechs, die Patienten, Sibylles lustige Bemerkungen und der Streit mit dem Chef fehlt mir. Die gleichen Worte unseres Busfahrers Satzel, wie wir ihn nannten, jeden Morgen auf` s neue klingen mir im Ohr: Na Mädels, was ist los?, ist der Kaffee fertig?. Sein 50. Geburtstag fällt mir ein, ich lächele vor mich hin, wenn ich an den Bus denke, den ich zu diesem Anlass gebacken und dann mit Sibylle originalgetreu verziert habe, ... angefangen vom Nummernschild bis zu den Insassen. Mit viel Gackerei sind wir bis St. Josef balanciert, um ihn heil anbringen zu können, auch der Satzel wohnt ja in St. Josef. Ich rieche die Pferde, sehe Charlotte im Stall bei den Ziegen herumwerkeln und Kuno mit dem Kopf wackeln. Was wird Simon machen?, ob er noch seine Freundin hat? ... . Ob der schöne Willi noch immer ein Schürzenjäger ist, ... ja, ... das war er nun einmal, ... wenn auch ein sehr charmanter. Ich bin nur froh, vor allen Dingen die Balkonzeiten voll genutzt zu haben, zudem ich von Sibylle in ihrem letzten Brief gehört habe, dass wahrscheinlich bald alle, die in der Klinik wohnen ausziehen müssen, ein kleiner Trost für mich?,... ich weiß nicht. Was mit den Patienten wird steht noch in den Sternen, aber möglicherweise, d.h. mit allergrößter Wahrscheinlichkeit wird das Haus geschlossen, so wie man es schon kurz nach der Wende gehört hat. Wer weiß zu sagen, was diese Wende noch so alles mit sich bringt, ich habe kein gutes Gefühl dabei, ich habe Lohra, dieses Nest geliebt, ... auch wenn ich manchmal gemeckert habe. - Beim Wohnungsamt war ich auch wieder, aber die Aussichten, aus diesem Loch hier herauszukommen sind schlecht. An der Kaufhalle werden Blöcke gebaut, man soll die Hoffnung nie aufgeben. - Zitatende - .
Die nachfolgenden Eintragungen in meinem Tagebuch sind bis zum Jahresende 1990 so präzise, ich kann sie fast alle im originalen Wortlaut übernehmen: Sonntag, 2. Dezember 1990, erster Advent, 18.16 Uhr: Henny ist gerade wieder weg nach Gütersbach, Carlo erledigt vergessene Hausaufgaben, die Haustiere schlafen, seit einer Woche haben wir wieder eine kleine Katze, die Miss. Elli verletzt gefunden hatte und auf die sie sehr gut aufpasst. Gestern war ich mit den Kindern zum Weihnachtsmarkt in Wiesenstadt, mit dem Bus sind wir dorthin gefahren. Eigentlich habe ich kein Geld für Weihnachtsmarktbesuche, es ist ein bedauerlicher Tatbestand, zu Weihnachten so knapp bei Kasse zu sein, ... das gab es noch nie. Also ist es schon fast egal, wofür ich die letzten Mäuse ausgebe, denn die Kinder sollen möglichst nichts davon mitbekommen,wie es momentan um uns steht, also komme ich ihren Wünschen nach, wie es mir nur irgend möglich ist. Ich bekam zwischenzeitlich nun das Geld vom Arbeitsamt, aber es mussten einige Löcher gestopft werden und wie ich nun die letzten Piepen einteilen soll, um ins neue Jahr zu kommen ist mir bislang noch ein Rätsel. Es ist eine schwere Zeit, seit einer ganzen Weile ist das Auto kaputt, Udo langt in punkto Alkohol wieder derart hin, er kommt überhaupt nicht mehr nüchtern nach Hause und geht ebenso wenig nüchtern zur Arbeit, für meine niedergedrückte Stimmung nicht gerade förderlich. Er gibt so gut wie kein Geld mehr zu Hause ab, deshalb ist es schon fast egal, ob er arbeitet oder nicht, jedenfalls finanziell gesehen. Gut ist, weil er dann wenigstens unterwegs ist, wenn man es so sagen kann. So wie er säuft, kann ich es ehrlich gesagt nicht verstehen, dass er noch nicht entlassen wurde. Die Gedanken, das alles schon mal gehabt zu haben, machen sich breit und unwillkürlich geistern mir wieder verschiedene Dinge im Kopf herum, die zumeist irgendwo in Lohra enden. Ich denke daran, dass vor zwei Jahren zum ersten Advent der Herbert das erste Mal bei uns zum Kaffee trinken da war, und irgendwann das eigenartige Ende um diesen Herbert. Es stört mich schon sehr, wenn Udo fürchterlich betrunken nach Hause kommt, ich gehe schnell, wenn ich höre , dass er gestolpert kommt ins Bett, weil ich keinen Bock habe, mir sein Herumgetorkele anzusehen. Ich habe oft schwere Träume. So habe ich vor zwei Tagen so intensiv von Frank geträumt, dass ich morgens hätte behaupten können, dass ich ihn am Tag vorher gesehen, und mich von ihm verabschiedet habe. Ich war so durcheinander, es fiel mir äußerst schwer, mich zusammenzureißen, die Erinnerungen an die glücklichsten Tage meines Lebens sind wieder da, mehr als deutlich kann ich sie sehen. Warum haben wir beide das nur nicht in den Griff bekommen?, ob er auch noch manchmal an mich denkt?. - Übrigens hat mir Henny als sie hier war erzählt, unser Lohra – Busfahrer, der Satzel ist gestorben, ich kann es einfach nicht glauben. Ist es nicht merkwürdig, dass ich vor kurzer Zeit in meinem Tagebuch Erinnerungen aufgestöbert hatte, die sich damit verbinden?. Ich werde bestimmt von Charlotte oder Sibylle bald davon hören, sie wissen bestimmt etwas Genaues. - Zitatende - .
Mittwoch, 5. Dezember 1990, 9.12 Uhr: vielleicht ein ungewöhnlicher Augenblick um Tagebuch zu schreiben, aber ich bin allein und es gibt nicht viel zu tun. Nebenbei schaue ich Dallas, alle Folgen werden zur Zeit wiederholt und ich denke in dem Zusammenhang an Jasmin und das großartige Ereignis damals mit ihrem neuen Farbfernseher. Heute gibt es wohl kaum noch Schwarz - Weiß - Geräte zukaufen, allerdings sind diese neuen „Farbglotzkästen“sehr teuer und für uns vorerst in unerreichbarer Ferne, ich kann froh sein, wenn ich noch etwas Essbares kaufen kann. Der eigentliche Anlass für meine heutige Eintragung ist, dass ich schon wieder von Frank geträumt habe, es bringt mich sehr durcheinander. Manchmal könnte ich verrückt werden, wie alles, aber auch restlos alles durch meine eigene Schuld so geworden ist, ... ob ich ihn jemals wiedersehe?, macht es überhaupt einen Sinn ihn wiedersehen zu können, zu wollen?, ... oder wie auch immer, ... oder hören die Schmerzen dann erst recht nicht auf?, ... aber von Lohra wegzugehen, ... damit jedenfalls, habe ich alles nur noch schlimmer gemacht, ... nicht nur für mich. Vor allem lässt mir die Frage keine Ruhe, ob sich Carlo hier wirklich gut fühlt oder nicht, wenn ich ihn beobachte, wie er mit seinen Freunden spielt, dann glaube ich daran, dass er zufrieden sein könnte. Möglicherweise könnte er natürlich auch, was sein Wesen anbetrifft in meine Richtung einschlagen und es nur still akzeptieren, ... was ich mir aber absolut nicht vorstellen möchte. Zu meiner Angst und der einfach fehlenden Kraft zu sagen, lieber heute als morgen von hier nach Hause zurückzukehren, kommt wohl auch noch eine gewisse Bockigkeit meinerseits zusagen: nein, ... nach Lohra gehe ich nicht zurück,... um mich nicht bloßstellen zu müssen, schließlich sage ich überall und jedem das, was ich bereits etliche Male festgehalten habe. Vielleicht wäre es noch ein bissel anders wenn Carlo sagen würde: Mama, wir wollen zurück nach Lohra oder nach Seelstein, ... ich möchte ihn manchmal danach fragen, aber ich habe Angst, ihn in Gewissenskonflikte zu bringen, es reicht schon, dass ich ihn ungefragt hierher gezerrt habe. Meine Eltern würden sich freuen, wenn ich umkehren würde, besonders mein Papa denke ich. Henny hat einen Freund, und der ist halt jetzt sowieso für sie wichtiger als ich, ... das ist eben so in dem Alter. Es trifft mich auch noch immer, dass Marcel nicht mehr zu wissen scheint, dass es mich gibt, ... von Henny weiß er wo ich zu finden bin, ... naja was soll das alles, ich kann es nicht ändern, es muss also alles bleiben wie es ist, ... und egal was es ist.
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