Stefan Wieser
Die bunten Lebensaufzeichnungen Egons, der im Alter von dreieinhalb Jahren am Spiegelgrund seiner Wörter tauchend umkam
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Inhaltsverzeichnis
Titel Stefan Wieser Die bunten Lebensaufzeichnungen Egons, der im Alter von dreieinhalb Jahren am Spiegelgrund seiner Wörter tauchend umkam Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog – Ein Sammelgrab
Die Beobachtungen des Wörterhändlers am Spiegelgrund
Spitalseinblick-Exkurs
Egons bunte Lebensaufzeichnungen, der am Spiegelgrund seiner Wörter tauchend umkam
Egons bunte Aufzeichnungen über seine Herkunft – Egons Welt
Egons Gangkabinett
Ich
Egons Horchen
Kerserderserkerski
Egon
Blitzbilder
Der Vogelbericht
Untersuchungen
Egons Nachtgedanken – Zu den Zügen und Passagieren der Nacht
Die Nachtgedanken über die Jahreswürfler
Egons Urwälder der Sprache
Mein Gleichnis vom Krankensaal-Bahnhof
Lene
Dort, wo du nicht bist
Sprachquellen
Wettrennen Kerserderserkerski vs. Stadtbahn
Nachmittags um drei im Frühling
Begegnung am Weg
Operationswunden
So will ich liegen und horchen still
Ein Nachmittagstraum
Wenn man allein ist
Auf dem Weg hinunter
Besucher
Die Riesin
Schuld und Vergeltung
Der Spiegel
Ausgänge
Hinterglaskinder
Zurück
Die Klarheit
Die Täuschung
Im Monat Mai
Am 4. April
Ich und du – Ich habe mich in dich verwandelt
Impressum neobooks
Die bunten Lebensaufzeichnungen Egons, der im Alter von dreieinhalb Jahren am Spiegelgrund seiner Wörter tauchend umkam
Stefan Wieser
Impressum
Texte: © Copyright by Stefan Wieser
Umschlag: © Copyright by Stefan Wieser
Verlag: Stefan Wieser
1230 Wien
hyakinthos@gmx.at
Druck: epubli, ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
Printed in Germany
Für die Sprachlosen
Ich vergesse dich niemals.
Unauslöschlich habe ich deinen Namen auf meine Handflächen geschrieben.
Es steht ein Haus am Wienfluß, das will mir nicht aus dem Sinn. Am Wegrand vor dem Haus, fünfstöckig in die freien Lüfte ragend, finden sich acht Erinnerungssteine in den Boden eingelassen, unentdeckt den achtlos Vorübergehenden, denen dieser Rand nur als der Rand von irgendetwas gilt, als der Rand des Lebensmittelmarktes, der autodröhnenden Ausfallschneise aus dem Häusermeer, als der Rand des Flusses. Den 13. März 1945, so meldet eine dem mittleren der Steine eingravierte Inschrift, wurde der aus diesem Haus stammende dreieinhalb Jahre alte Gerhard Egon S. mit Bestimmungsort Spiegelgrund deportiert.
Ein Ort, ein Name, doch mannigfache Qual.
Deshalb will Egons Haus mir nicht aus dem Sinn.
Das Haus steht also mit seinen fünf Stockwerken und acht Bronzesteinen vor seinem Haustor unweit der Einmündung der Kettenbrückengasse gebaut, der Verkehr der nach dem erwähnten Wienfluß benannten Wienzeile, einer Ausfallstraße im Häusermeer, rauscht vorüber. Fassade und Dach mit ein paar Jugendstilornamenten ragen in die frei anmutenden Lüfte.
Wir wenden uns ab von dem unter der geläufigen Bezeichnung „Stolperstein“ geführten Mahnmal, diesen hundert Bronzequadratzentimetern Name und Lebensdaten nahe der umtosten Straßenkreuzung an der geschäftigen Kettenbrücke mitten unter pittoresken Jugendstilfassaden und wenden uns einem anderen Ort zu und verschließen nicht die Augen: der „Kinderfachabteilung“: am Rand der Stadt gelegene Seitenabteilung der Hölle.
Viele Namen: Lene, Egon, Annemarie, Engelbert, Gertrude, Josef, Felix.
Unbrauchbar, vom sogenannten Volkskörper auszusondern, abseits gelegen.
Unbrauchbar für den Volkskörper , aussortiert aus diesem, eingewiesen in die Kinderfachabteilung, eingegangen in das Reich der Ohnmacht, am dritten Tage eingeschläfert, vergessen, verdrängt, aufgefahren in die Namenlosigkeit mit den Worten: Vergeßt uns nicht.
Viele der „Aussortierten“ besaßen keine Sprache, weil man sie ihnen absprach.
Die Sprachlosen hatten aber keine Mitsprache im Volkskörper .
Für sie war die „Kinderfachabteilung“ zuständig als letzte Station. Als Ziel nahm man sich vor, alle diese stummen Nebenbewohner der Welt der „Einweisung“ zuzuführen, die ansonsten unbemerkt ihr stilles Dasein am Rand der Wege, am Rande der Häuser geführt hätten, mittags gefüttert, abends bedeckt.
Am Ende stand der „Beileidsbrief“, Lungenentzündung, medizinische Todesnüchternheit auf Spitalspapier mit drei Schlußfloskeln Erlösung, endesunterzeichnet, Doktor Kerserderserkerski, Primarius.
Eines aber hatten Lene, Egon, Annemarie, Engelbert, Gertrude, Josef, Felix und all die anderen gemeinsam: In ihrer Sprachlosigkeit fanden sie doch ein System der Mitteilung. In diesem letzten Stadium der Ohnmacht gilt jedes noch so flüchtige Zeichen als ein Wink an die Nachwelt, ein Blick auf einer Fotografie, ein Heft, zurückgelassenes Spiel: Vergeßt uns nicht.
Daher hat die Phantasie des Verfassers in diesem Band unternommen, ein solches System zu erfinden und dem dreieinhalb Jahre alten Egon, dem Alter Ego Egons Buntstifte in die Hände zu legen. So werden Egons Mitteilungen in Form von Buntstiftzeichnungen zu einem Widerspruch gegen zugesprochene Sprachlosigkeit. Ein ganzes Schulheft, vollgezeichnet mit Buntstiftornamenten, beinhaltet diese Lebensaufzeichnungen seiner dreieinhalb Jahre.
Sie sind der Inhalt dieses Bandes. Ihm ist ein Leser beigestellt, ein zur Deutung der Aufzeichnungen Berechtigter, der Egons Buntstiftzeichnungen entschlüsseln wird, die für die meisten nichts weiter darstellen.
„Das kann doch nicht Kunst sein!“, rief der Kunstsachverständige aus.
Zwischen den bunten Girlanden seiner Buntstiftzeichnungen aber winkt Egon hervor aus alten Märchen mit weißer Hand.
Die „Kinderfachabteilung“ also: Am Spiegelgrund erscheinen den Kindern die Fenster des Krankensaales turmhoch. Hier wird getötet, erbrochen, gebrochen, gefesselt, unterkühlt und verhungert. Als Meister solcher Disziplinen schwingen die Professoren der Psychiatrie ihren Taktstock über die unter ihrem Dirigat stehenden Kinder, und sie kommen selten aus dem Takt. Das Konzert steht mit dem Titel „Volksgesundheit“ überschrieben. Im Volkskörper herrscht Hygiene! Auf die Eins wird auf den nackten Leib geschlagen, auf die Drei das Brechmittel injiziert, der Generalpause ist das Luminal vorbehalten, das, über längere Zeit verabreicht, zur Lungenentzündung führt. Wer in den Saal solcher Höllendompteure eintritt, läßt seine Hoffnungen am Tor angekettet liegen. Als nun unser Höllenwanderer Egon im Alter von dreieinhalb Jahren das Reich der Doktoren Illing und Gross und Jekelius und Kerserderserkerski und der Doktorinnen Hübsch und Mück betritt, bleiben ihm genau dreiundzwanzig Tage, in dieser Unterwelt der Hygiene seinen Kampf ums Dasein zu gewinnen. Vielleicht hätte ein dreiköpfiger Wächter am Eingang dieses Infernos aus Spitalsgeruch und Brechmittel bis zu einem gewissen Grad Empathie mit den in ihren erbrechenden, erfrierenden Körpern gefangenen Kindern bewiesen. Gewiß hätte er stumm am Eingang des Krankensaales im Pavillon XV an seiner Kette gelegen, trotz seiner drei Rachen das am wenigsten zu fürchtende Ungeheuer dieser Unterweltsabteilung. Aber jener berühmte Goldene Zweig, den es als Zahlungsmittel für den Rückweg aus der Hölle zu entrichten gilt, schaukelt in unerreichbarer Entfernung siebzig Armeslängen vor dem Fenster des Saales und wiegt mit seinen Bewegungen die eingekerkerten Kinder in einen trügerischen Schlaf.
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