Es bleibt die Notwendigkeit, mehr als nur einer Spur Egons zum Bleiben zu verhelfen. Über Egon einen Text zu schreiben, bedeutet, sich mit jemandes Leben zu befassen, der beinahe gar nicht darin eingezogen ist. Ein paar Atemzüge, die den im Gedenkstein eingelassenen Namen im Lesen und Weitergehen für den Verfasser zu etwas Lebendigem machen, ein paar Zahlen, die er abliest, müssen seiner Phantasie reichen, diese wenigen Atemzüge zu einem Leben zu flechten. Es existiert kein Grabstein, der Egons Namen trägt. An Egons Leben zu erinnern, bedeutet, dem Fremdesten aller Fremden ein Denkmal zu setzen.
Der vorliegende Text läßt Egons Fenster daher noch einmal aufgehen, als ließe sich den wenigen Daten noch ein wenig mehr abringen als das nüchtern Vorhandene, etwas zwischen den Zahlen Befindliches. Der Verfasser hat sich daher vorgenommen, ins Dickicht der Wörter hineinzublicken, die Egon während der 3 ½ Jahre seines Lebens gesprochen hat, zum Spiegelgrund seiner Wörter zu tauchen, wo alles angefangen hat. Er spürt seinen Tagen nach, er entwirrt seine Worte und offenbart die Begegnungen seines Lebens, wie sie stattgefunden haben könnten.
Egon steht für all die anderen. Gesicht und Geschichte können noch nicht übereinstimmen, weil seine Geschichte hier erst geschrieben werden muß.
Dieser Text ist gedacht als Egons Grabmal und gerade deswegen als ein Lebensmal.
Dieser Text ist ein Sammelgrab, ein kollektives Grab für alle diejenigen, deren Namen am Spiegelgrund verzeichnet stehen und für die Egons Name hier steht.
Die Beobachtungen des Wörterhändlers am Spiegelgrund
Am Spiegelgrund meines Lebens liegen die Wörter.
Dieser Satz stand bis zum Buchstaben L des Wortes Lebens mit blauem und rotem Buntstift gemalt quer über den aus versteiftem schwarzem Papier bestehenden Umschlag eines Schulheftes geschrieben. Heft und Stifte bildeten während Egons Aufenthalt auf dem Spiegelgrund seine einzige Habseligkeit. Es ist ein durchaus normaler Vorgang, wenn man den in ein Spital Eintretenden von allen Dingen scheidet. Man nimmt ihm seine Kleider und steckt ihn in Spitalsgewand, man stellt ihn in die Spitalszeit, die nach anderen Uhren mißt als die Zeit draußen. Man nimmt ihm alles und er beugt sich willig dieser Enteignung auf Zeit, weil er ja von den Ärzten das Gnadengeschenk der Heilung am Schluß empfangen wird.
Für Egon, dem man auch Körper und Name und Wörter wegnahm, bildete ein Besitz wie der seinige einen unermeßlichen Schatz in der weißen Spitalswüste des Spiegelgrundes. Heft und Stifte lagen wahllos verstreut auf seiner Matratze, seine bunten Waffen gegen Spitalsluft und Spitalszeit und das Stillstehen der Stunden. Man beließ sie ihm zu den einen Zeiten des Tages, zu den anderen entzog man sie ihm. Sobald er sie aber in die Hände bekam, machte er sie zu Werkzeugen seiner Lebenszeichen und malte bunte Spuren in das Heft, damit einer wisse, daß er hier vorübergekommen sei. Ihnen folgte er, sobald er sie gemalt hatte, setzte seine Füße im Tanzschritt darauf, folgte ihrem Verlauf in tänzerischen Bewegungen seiner den Buntstift haltenden Hand, stets ein paar Schritte vor dem Tod her.
Hier denke dir den Krankensaal fotografisch, drinnen in einem der Pavillons am Spitalsgrund des Spiegelgrundes einen Krankensaal in Momentbelichtung vormittags um zehn, zehn Betten, fünf auf jeder Längsseite, darin stehend oder liegend in weißen Spitalshemdchen Kinder, in jedem Fall aber neugierig in der gewohnten Spitalswüste die Gesichter dem Objektiv zudrehend.
Ich fand das Heft mit Egons Buntstiftzeichnungen an einem Tag Anfang April, an einem Nachmittag. Es lag unter den Buntstiften, die wie Mikadostäbe durcheinanderlagen, auf der Tuchent. Egon war gerade abwesend. Wie aus Nachlässigkeit oder Geringschätzung lag das schwarze Bändchen mit seinem rot umrandeten Namenschild achtlos unter die Schreibgeräte hingeworfen, und zwar von der Hand des Primars Kerserderserkerski, dem die Entdeckung der Heftaufschrift einige Minuten davor zunächst Anlaß zu geschärfter Aufmerksamkeit gegeben hatte. Aber als ich eintrat in den weißen Saal, in dem dessen Gerüche wie Vorhänge hingen, abgestanden und flau, stand Egons Bett leer. Nur das von seinem Besitzer anscheinend in Eile zurückgelassene Heft gab ein Zeugnis davon, daß er beim Zeichnen unterbrochen worden war.
Ich bin nun einer, der von Natur aus gleichsam sein eingeborenes Interesse auf alles Geschriebene lenkt, da ich von Berufes wegen mit Worten handle. Also unterzog ich das Heftchen eingehender Betrachtung. Hinter dem L des Wortes Lebens in der Aufschrift ging das Rot des einen Buntstiftes ins Grün eines anderen über. Der Umschlag schützte vierzig blaßblaue Seiten des Heftchens, die aus daumenweichem Papier bestanden, um ein Wort anzuführen, das ich als versierter Wörterhändler sehr bald unter einer großen Zahl anderer Wörter fand, die alle die Eigenheiten und Eigenschaften des Heftchens beschrieben. In seinem oberen Drittel trug es, wie schon erwähnt, ein mittig aufgeklebtes rot umrandetes Namensschild, auf dem allerdings kein Name einen Besitzer nannte, sondern stattdessen der eingangs genannte Satz gewissermaßen den Titel des Heftes darstellte. Im Inneren des Heftes nun fanden sich auf jedem einzelnen Blatt Zeichnungen in den unterschiedlichsten Farben, wie sie eben in einem Buntstiftkasten zur Verfügung stehen, Zeichnungen jedenfalls, die auf den ersten Blick immer dasselbe Motiv zeigten. Dabei handelte es sich um Geflechte aus Buntstiftfarbe, um Netzwerke unterschiedlicher Dichte, wobei eine an einem bestimmten Punkt des jeweiligen blaßblauen Blattes begonnene farbige Spur in zahlreichen Kurven, Schlingen und Mäandern einem Kurs folgte, aus dem sich nicht ablesen ließ, ob die den Buntstift führende Hand ihn in herausfahrender Willkür oder ganz unwillkürlich gezogen hatte. Diese bunten Bahnen bedeckten also ohne Unterbrechung die entsprechende Heftseite, allerdings hatte der Zeichner oft die Mine abgesetzt und die Spur in einer anderen Farbe fortgesetzt. Kein dem Metier eines Wörterhändlers adäquater Gegenstand, so hätte einer denken mögen, dem ich auseinandergesetzt hätte, auf welche Gebiete sich meine Geschäfte erstrecken. Aber er wäre fehlgegangen in seiner Annahme. Denn ich nahm im Labyrinth dieser Bögen und Bahnen sofort in aller Lebendigkeit das Flimmern von Buchstaben wahr, welches durchaus nicht auf optischer Täuschung beruhte, wie einer hätte einwenden mögen, der nicht den berufsbedingten Scharfblick für solche Dinge besitzt wie ich und daher nichts weiter in diesen Zeichnungen sah als die planlosen Spuren eines ungeordneten Geistes eines Kindes, welches das Planen niemals lernen wird. Für mein geübtes Auge dagegen schienen diese in Kolonnen und Verbänden inmitten der Buntstiftornamente tanzenden Buchstaben die bestimmte Absicht zu verfolgen, sich zu neuen Ordnungen zusammenzuschließen. Es stand für mich außer Zweifel, man habe es als eine Frage der Zeit zu betrachten, bis aus diesem Liniengeflecht jene Klarheit hervortrat, die dem scheinbaren Chaos bereits innewohnte als ein Code der Wortgeburt.
„Das kann doch keine Kunst sein!“, mag da der Kunstsachverständige siebzig Jahre später ausgerufen haben.
Durchaus aber leuchtete mir nicht das Gekrakel eines verwirrten Geistes aus diesen blaßblauen Blättern entgegen, sondern ein Mitteilungssystem von höchster Genauigkeit, das zu entschlüsseln für mich in diesem Augenblick als Entschluß feststand. Ich vertiefte mich also wiederum in die Blätter, über die, wie bereits angedeutet, ein weniger kundiger Betrachter sagen hätte mögen, eine mit Buntstift bewehrte Hand eines höchstens vierjährigen Kindes von debiler Natur habe sich minutenlang wirr und fiebrig darüber hinwegbewegt. Nichts fand ich weniger zutreffend. Was ich entdeckte, war Mitteilungskunst, ein Geständnis des Lebens, das mit allen Mitteln darum kämpfte, eine Spur zu hinterlassen, die den Betrachter in jene Bereiche führte, wo alles angefangen hatte. Ich wußte, daß ich Egons Erbschaft in Händen hielt und setzte mein Auge sogleich wieder an den Beginn der Buntstiftspur, um ihr zu folgen. Sogar über winzige Brücken las ich mich bei genauem Hinsehen hinüber, unter denen sich die überbrückte Buntstiftspur wie ein Flußlauf wand. Zumindest mein Auge, das seit jeher an mikroskopische Genauigkeit gewöhnt ist, entdeckte diese Brücken sogleich. Meine Augen tasteten sich die Buntstiftspur entlang. Meine Blicke lasen im Gehen und gingen im Lesen. Und beim ersten Anblick fühlte ich mich an jenen bestimmten Typus chinesischer Bildkunst erinnert, bei der eine lange Erzählung in tausenden Figuren, Städten, Ereignissen, auf einem Papierstreifen ganze Galerien und Säle eines Museums durchläuft.
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