Der Grund meines Kommens? Ich sammle eben von den Menschen die Wörter ein, die sie nicht mehr benötigen werden. Ich pflege von jeher der Gewohnheit, die von den Menschen – nun ja – die an der sogenannten Schwelle zurückgelassenen Wörter der Menschen in mein Archiv einzuordnen, bevor sich ihre gefährdete Existenz verliert. Ohnehin konnten sie ja nichts über „die Schwelle“ tragen, was sollten ihnen da ihre Wörter? Das Heft mit den blaßblauen Seiten geriet also an einem jener Tage in meine Hände, als ich beinahe zum letzten Mal auf den Spiegelgrund zurückgekehrt war, um Egon von dort abzuholen und mit ihm ein wenig später hinunter zum Entlassungsgebäude zu gehen. Kinder nämlich hole ich immer selbst ab. Diesmal aber war ich wohl überpünktlich erschienen und mußte noch warten, bevor ich mit Egon in der Verwaltung die Entlassungsformalitäten erledigen konnte. Es herrschte eine Stille im Krankensaal, schwer vom Licht des Frühjahres, und ich lauschte, ob der Atem der schlafenden Kinder in den eisernen Betten leichter sei als jenes Licht und ob sich dieser neunfache Kinderatem vielleicht hoch oben an der Saaldecke mit den Spiegelungen und Erscheinungen und Zeichen des Lichtes vermengte, als sei es noch nicht entschieden, wer oblag, der Kinderatem oder das Licht.
„So verhält sich nur Licht, das sich unbeachtet wähnt“, dachte ich in diesem Moment, „oder aber ein Kind tastet sich auf diese Weise zur Saaldecke hinauf mit seinen Blicken, das mit der Fähigkeit zu solcher Lichtwahrnehmung gerade im letzten Stadium aller Wahrnehmungen angelangt ist“.
Mitten in meinen Gedanken legte ich das Heft an seinen Platz zurück, aufgeschreckt durch das Schrittgeräusch des mitsamt seinem Gefolge in den Saal zurückkehrenden Arztes, und zog mich ein wenig in den Hintergrund zurück. Ich mußte mich nun ganz still verhalten.
Der Primararzt Kerserderserkerski bemerkte mich nicht. Die Flügel der weißen Saaltür schwangen auf und schaufelten eine Wolke von Essensgeruch in den Krankensaal. Und da trat er nun ein. Aus dem Kerker der Kinderfachabteilung konnte zu dieser Zeit selbst sein Schreckensinventar den Frühling nicht fernhalten, der unerwartet und zu heftig Einzug gehalten hatte. Beinahe schien das Licht plötzlich alle Riegel aufgeschlossen zu haben. Ich war etwa zeitgleich mit einem dieser ersten Frühlingstage zurückgekommen und hielt mich auf meiner Suche nach Egon, den ich ja abholen sollte, in den verzweigten Räumlichkeiten der Kinderfachabteilung unter größtmöglicher Unauffälligkeit im Hintergrund. Ja, ich machte mich völlig unsichtbar. Mittels meiner Wörter vermochte ich das. Ich durfte nicht gesehen werden und war doch da.
Welcher Blick steht nun hinter der Kamera, die solche Bilder erzeugt? Der Krankensaal in scharf belichtetem Schwarzweiß, Blende und Belichtung ausgewogen, tiefenbelichtet und scharf zugleich. Die Kinder strecken ihre Gesichter der Zukunft entgegen. Blick und Klick, Sekundenblick des Fotografen und Fotografentrick, das ist aber nicht alles. Das ist noch ein anderer Blick, der aus der noch nicht eingetretenen Zukunft in den Zeittrichter fallen wird, in den sich der Krankensaal im Augenblick der Fotografie verwandelt. Du wirst Bestandteil werden und warst doch nicht da ---
In dieser „Kinderfachabteilung“ herrschte der soeben in den Saal eintretende Arzt, der Primar Kerserderserkerski, als absoluter Herr über das Leben und über den Tod, seinen Kettenhund mit dem schalen Gebell. Nachdem er zielstrebig ein bestimmtes Bett angesteuert hatte, träufelte der Primarius aber einen anderen Tod (denn er verfügte über diesen in vielfältiger Gestalt) in Form einer rosa Flüssigkeit von stechendem Geruch auf einen Löffel. Die Flüssigkeit, die er oft von diesem Löffel auf Lippen und eine Zunge tropfen ließ in zähflüssigen Fäden, hinterließ einen bittersüßen Geschmack auf den Geschmacksorganen derer, die er für eine solche Kur ausgesucht hatte. Der Geruch vermischte sich dann immer mit seinem Mannesdunst, der von ihm ausströmte, von seiner hart gebauten Stirn und den Brauen und vielleicht dem Haar. Kerserderserkerski stand in den ungeheuer hohen, sterilen Fliesenräumen eingehüllt in eine Wolke dieses schweren, betäubenden Geruches, der die antiseptische Atmosphäre irgendwie mit Unreinlichkeit schwängerte, mochten seine Hände als Visitenkarte des Menschen noch so gepflegt wirken. Dem Geruch Kerserderserkerskis erlag sein Opfer, wenn er sich in jenem einvernehmlichen Schweigen über dessen Bett beugte, das zwischen einem Henker und seinem gefesselten Delinquenten besteht. Er ließ den langsamen Tod sozusagen streckenweise mittels Luminalspritzen in die Venen injizieren, durch deren Serum er die Lungen lähmte und die Pforten des Gehirns öffnete. Im gelähmten Bewußtsein verbreitete sich die Vorstellung des Erstickens an der zu schwer gewordenen Luft. Und hätte ich in jenen Tagen, als ich auf der Suche nach Egon auf den Spiegelgrund zurückgekehrt war, dem Frühling eine Art von Persönlichkeit und menschliche Gestalt verliehen, wofür ich aus bestimmten Gründen durchaus als prädestiniert in Betracht komme, so hätte dieser Frühlingsallegorie in ihrer eigenen brausenden Gegenwart das Herz bis zum zugeschnürten Hals gehämmert. Der Ort, an dem ich Egon suchte, um ihn abzuholen und heimzuführen, war nämlich kein Ort für den Frühling.
Wir wußten zum damaligen Zeitpunkt bereits, daß die Tage Kerserderserkerskis gezählt waren. Obschon das Ende seiner „Kinderfachabteilung“ nach Wochenfrist bereits heraufdämmerte, lag sein charakteristischer Geruch und Mannsdunst atemverschlagend noch immer im Reich der Innenräume der Anstalt, die alles Äußere leugneten. Kerserderserkerski nahm nun nach seiner Rückkehr in den Krankensaal das Heftchen mit der bewußten Aufschrift in die Rechte und wippte die blaßblaue Sammlung seiner daumenweichen Seiten mit einer großspurigen akademischen Geste zwischen seinen gepflegten Fingern, die für einen Gegenstand von solch großer Unschuld unangemessen wirkte, während er an der Spitze seines Gefolges zur Visite und zum Rundgang im Saal antrat, ein eleganter Mann in Weiß.
Kurz zuvor hatte man Egon zurück aus einem Nebenraum in sein Bett gebracht. Die Aufschrift auf dem schwarzen Einband fing übrigens ordnungsgemäß in der linken oberen Ecke des Namensschildchens an, verlor aber nach dem dritten oder vierten Buchstaben die gerade Linie und uferte in immer größer werdenden Lettern von verschiedensten Farben, die sich allesamt von dem schwarzen Untergrund abhoben, über die enge Begrenzung des Schildes von dicken, roten Linien aus. Diese insgesamt also außerhalb der Ordnung stehenden einundvierzig Buchstaben in ihrer kindlichen Blockschreibweise gaben für den Primarius Kerserderserkerski den Anlaß zu jener außerordentlichen Visite am Eisenbett Egons im Krankensaal I des Pavillons XV.
Wie äußerte sich die Macht eines Kerserderserkerski und in welchem Inneren lag sie verankert? Seine Erscheinung wirkte auf alle Menschen elegant, sogar auf diejenigen, die er sich zum Opfer auserkoren hatte. Nur haben Kinder für Eleganz einen anderen Namen: klingende Hohlheit. Eleganz wirkt auf Kinder, die das Hohle unter äußerer Pracht wittern, meist wie etwas von Unirdischem herkommend, unheimlich, unheilverheißend, daher weiters der Name für die Erscheinung Kerserderserkerskis: leeres Schalentier. Und der Zweck seiner Behandlung war im Krankensaal I immer der Tod, sein medizinisches Instrumentarium stets gegen das Leben gerichtet, seine Diagnose lautete kaum jemals anders als auf den Befund unbrauchbar . So wollte es die Volksgesundheit. Wie ein zum Tanz schreitender Engel glitt der Professor kaum hörbar in tiefen Lederstiefeln in weichem Schwarz durch Säle und Korridore auf die mit ihrer römischen Eins überschriebene Flügeltür des Saales I zu. In der Begleitung des Primararztes befanden sich die Oberärztin Klein-Hübsch sowie die Frau Doktor Mück und ein Gefolge von zwei Pflegerinnen und einer Rotkreuz-Schwester.
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