Während dieser Tage erfahre ich auch, Frau Gärtner gibt ihr Geschäft auf und geht in Rente. Ein Ehepaar, namens Messerstein übernimmt diese Gaststätte am Strand. Ich bearbeite Udo solange, bis er sich auf den Weg macht, um dort wegen Arbeit vorzusprechen. Zur Zeit ist die Gaststätte geschlossen, sie wird ausgiebig umgebaut und renoviert. Ich lasse mich nicht abschütteln und gehe mit, es ist ein Vormittag, Carlo ist in der Schule. Auf dem Weg zum Strand denke ich nur dauernd daran, dass Udo hoffentlich angenommen wird, ... vielleicht weiß dort noch niemand etwas von seinen Eskapaden, es ist ein Versuch wert, denn diese fatale Sauferei zu Hause, ... das hält niemand aus. Für Carlo ist es mehr als eine Zumutung, es gelingt mir leider trotz aller Bemühung nicht immer, dass er nichts davon mitbekommt. Als wir eintreten, die Tür ist nicht verschlossen, sind die Renovierungsarbeiten in vollem Gange. Eine junge, sehr schlanke Frau, sowie ein ebenfalls junger, aber recht kräftiger Mann fragen nach unseren Wünschen. Udo schaut mich an als wäre ich ein Gespenst, ich sage zu ihm, er müsse schon selber reden, denn das kann ich nun wirklich nicht auch noch für ihn tun. Er stottert den Wunsch und das Vorhaben zusammen, hier arbeiten zu wollen. Herr Messerstein meint: „Ja, ... in der Tat, einen Kellner können wir zumindest für die Wiedereröffnung gebrauchen, das Küchenpersonal haben wir zum Teil übernommen, ... Sie haben bereits bei Frau Gärtner gearbeitet habe ich gehört?“ , erkundigt er sich. Ich denke, na ja, also doch schon bekannt, also weiß er auch von der Alkoholgeschichte, ... ich habe noch nicht zu Ende denken können als er weiterspricht: „Ich habe auch gehört, dass Sie gerne dem Alkohol zusprechen, Herr Wolmirstedt“, meint er und bekommt keine wirkliche Antwort von Udo. „ Am 15. Februar eröffnen wir wieder neu, ich stelle Sie unter dem Vorbehalt zu diesem Termin ein, aber ich sage Ihnen gleich, ... bei uns herrscht striktes Alkoholverbot während der Arbeitszeit!“. Ich bin sehr erleichtert, während es Udo egal zu sein scheint, er sagt nur: „Na, dann tschüss bis dahin“. Auf dem Heimweg sage ich zu Udo: „Du weißt aber hoffentlich schon, dass das Deine zweite Chance ist, die Dir nicht jeder einräumen würde, ... also richte Dich bitte danach . In Zukunft werde ich Dich an dem Tag, an dem es Geld gibt abholen, damit Du davon für Carlo und für mich etwas abgibst. Wir sind verheiratet und es ist Deine Pflicht, Dich um uns zu kümmern, ... ob Du nun willst oder nicht!“. „Jaaa, ... wenn Du meinst, ... dann musst Du es eben so machen“, erwidert er gelangweilt. „Genauso ist das, Du hast nicht ein einziges Mal etwas von Deinem Geld auf das Konto eingezahlt oder überweisen lassen, im Gegenteil, ... Du hast das Geld für Carlo von der Kindergeldkasse auch noch abgehoben, ... sag` mal schämst Du Dich denn gar nicht?“. Mehr als ein unbeteiligtes „tja“ bekommt er nicht zustande.
In den Winterferien, im Februar 1991, zu Monatsanfang kann ich endlich mit Carlo wieder nach Seelstein fahren, Udo fährt zwangsläufig mit, die Neueröffnung der Gaststätte verschiebt sich ein wenig. Udo ist mir direkt lästig, nicht zuletzt deshalb weil er mir auf der Tasche liegt und auch noch den großen „Max“ spielt. Bisher hat er kein Arbeitslosengeld beantragt, obwohl ich es ihm bereits mehrmals eindringlich gesagt habe. " Ich habe doch eh bald Arbeit ", meint er und es macht ihm anscheinend nichts aus auf meine Kosten zu leben. Das Geld zum Fahren in meine Heimat habe ich mühevoll zusammengekratzt, ein Glück, mein Arbeitslosengeld und Kindergeld kommen jetzt regelmäßig, vor allem es ist jetzt sicher vor Udo, er kann sich nicht mehr davon bedienen. Auch das Kuchengeld habe ich für den Heimatbesuch konsequent weggelegt. Glück wenigstens ist, dass Udo mit dem Auto, was nun wieder repariert ist fahren muss, dadurch wird er an der vielen Trinkerei gehindert, zudem habe ich jetzt mein Konto unter Verschluss. Offensichtlich sieht es bei dem anderen nicht allzu gut aus, obwohl sich die Artikel wie Bier und Zigaretten im Moment notgedrungen in Grenzen halten. Natürlich schlafen wir bei meinen Eltern, etwas anderes wäre finanziell nicht möglich, die Angst, er könne sich trotz allem peinlich benehmen bleibt. Wir schauen nach Lohra in die Klinik hinein, dort erfahre ich von Schwester Hannelore, mit der ich viele gemeinsame Stunden verbracht hatte, dass das Sanatorium im „Sterben“ liegt. Der größte Teil der Mitarbeiter ist entlassen, der Rest, wenn man es so nennen kann, hat in Seelstein in der Sonnenburg noch Arbeit gefunden, ... aber das ist ein verschwindend kleiner Teil. Auch St. Josef liegt klein, verlassen und traurig da. Kuno findet sich mit der Wende und ihren Folgen nicht ab, Charlotte versucht zu retten was zu retten ist und Simon ist leider nicht da, so halten wir uns nicht lange auf. All` diese Dinge schmerzen ungeheuer, ich bin fast nur noch damit beschäftigt, darüber nachzudenken und Varianten zu finden, wie es mir ergangen wäre, wenn ich geblieben und nicht Hals über Kopf davongerannt wäre. Ich versuche es mir vorzustellen und komme irgendwann zu dem Entschluss, dass ich sicher auch nach Seelstein zurück hätte gehen müssen, aber ich glaube eigentlich nicht, dass ich meine Arbeit verloren hätte und eine Wohnung wäre sicher auch auffindbar gewesen. Bestimmt hätte ich, genau wie Schwester Hannelore bis zur letzten Minute in meiner Wohnung bleiben können. Aber hätte, ... hätte, ... und wäre, ... wäre, ... wie ich auch alles drehe und wende, ich komme immer wieder zu dem Schluss, ... es war mein größter Fehler meiner Heimat den Rücken zuzukehren.-
Wieder zurück in Domstedt mache ich mich auf zu Familie Vogenschmidt, ich will nachfragen, ob ich in der Saison wieder zum Arbeiten kommen soll. Ich bin froh, als Walter Vogenschmidt meint, ich könne im Mai wieder anfangen. Die Aussicht, erst mal wieder etwas zu haben, und nicht den ganzen Tag zu Hause sein zu müssen beruhigt mich etwas, obwohl ich weiß, dieser Job ist nicht die Erfüllung meines Lebens. Ich wünsche mir schon sehr, wieder im Gesundheitswesen tätig werden zu können, meine Patienten fehlen mir. Im März 1991 gerate ich bei den Stellenanzeigen auf einen Nebenjob, der sich „My way“ nennt und ich beschließe, mir das Um und Auf dieser Sache anzuschauen und anzuhören, ... bei einer Familie Schorn in Wiesenstadt. Es ist ein Vertrieb, bzw. Kauf und Verkauf von Haushaltswaren, angefangen von Reinigungsmitteln bis hin zu Kosmetikerzeugnissen. Man braucht kein Eigenkapital, man kauft die Waren ein, wie viel ist jedem selber überlassen, um diese dann mit einem bestimmten Prozentsatz weiter zu veräußern. Also versuche ich halt auch mein Glück damit, es kann nichts passieren.
Ich bin sehr traurig, ich bekomme immer weniger Post aus meiner Heimat, das Sprichwort: Aus den Augen aus dem Sinn scheint sich zu bewahrheiten, es trägt nicht gerade dazu bei, mein Dasein in Mecklenburg zu erleichtern. Meine Hanni und Jasmin bleiben mir als treue Freunde erhalten, ab und zu meldet sich auch mal jemand aus dem Seelsteiner Labor, … und meine Eltern natürlich.
Der März ist da, ich verbringe meine Zeit, die ich noch ungewollt zu Hause verbringen muss, um Carlo intensiv bei den Schularbeiten auf die Finger zu schauen, zu kontrollieren, dass er alles angefangene ordnungsgemäß erledigt, bevor er mit dem Nachbarsjungen auf Achse geht. Es beruhigt mich etwas, Carlo macht doch offensichtlich den Eindruck, recht gut in Mecklenburg leben zu können. Ich führe mein nach langen Überlegungen ursprüngliches Vorhaben, ihn doch einmal danach zu fragen nicht durch, ich befürchte, ich irritiere ihn damit. Mein Carlo ist ein Kind das eigentlich schon frühzeitig sagte, was ihm missfiel und ich denke schon, dass er sich dahingehend geäußert hätte. Auch heute ist er ein junger Mann, der sich nicht gerne etwas sagen lässt und setzt durch was er möchte, zumindest versucht er es. Carlo scheint in dieser Beziehung doch anders zu sein als ich und ich bin eigentlich froh, dass es so ist und ich hoffe somit, es wird ihm dadurch viel erspart bleiben. Er kommt hier mehr nach seinem Vater. Allerdings kann er sich, eben auch wie sein Vater schlecht unterordnen, bzw. angleichen und das ergibt des öfteren natürlich auch Schwierigkeiten, wenn auch anderer Art als die, wenn man sich alles gefallen lässt.
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