Am 18. September 1990 endet für mich erst mal die Arbeit bei Familie Vogenschmidt in der Gaststätte und ich bin wieder auf das wenige angewiesen, was Udo mit nach Hause bringt. Ich weiß noch immer nicht, dass man sich beim Arbeitsamt melden muss, wenn man keine Arbeit mehr hat. Der Herr Vogenschmidt sagt mir nichts, er glaubt, seine Frau hat mir die Papiere fertig gemacht und dass ich weiß, man muss sich damit umgehend beim Amt melden. Später stellt sich heraus, die Frau Vogenschmidt hat das Gleiche von ihrem Mann gedacht, also, dass der Chef mir die Unterlagen fertig gemacht hat und ich darüber unterrichtet bin was zu tun ist, aber wohl offensichtlich haben sie sich auch nicht darüber unterhalten. Auch mit Marianne und Urs gab es nie eine Unterhaltung über ein Arbeitsamt, ich habe mich nur immer gewundert darüber, was wohl die Leute machen, die keine Arbeit haben, ... vielleicht bin ich auch zu blöd, aber ich kann es nicht anders sagen, ... es ist mir eben entgangen. Jedenfalls bin ich nun ohne Geld, wenigstens kann ich für die Gaststätte weiterhin den Kuchen backen, was mir zwar gut bezahlt wird aber trotz allem ein Tropfen auf den heißen Stein bleibt. Ich mache mir Sorgen und Gedanken darüber, wie es weitergehen soll während Udo sich scheinbar gar nicht damit beschäftigt, sondern noch immer sagt: „Das Geld vom Kredit wird schon noch kommen“. Ich versuche das letzte Geld, also mein letztes Gehalt was ich von Vogenschmidts bekommen habe, so gut wie nur irgend möglich einzuteilen. Es gelingt mir so zu wirtschaften, dass wir im Oktober 1990 in Carlos Herbstferien nach Seelstein fahren können, um meine Eltern zu besuchen. Diesmal fährt Udo mit und mit ihm die Angst vor seinem Benehmen. Wir fahren mit dem alten Opel, den wir von Vogenschmidts vor einer Weile gekauft hatten. Wie immer ist es schön bei meinen Eltern, ... wie immer spielen sich die gleichen Szenen ab, und wie immer gibt es die Gespräche gleichen Inhaltes mit der ebenfalls immer gleichen Reaktion meinerseits. Dann geht Udo zur Bank um Geld zu holen, er meint, sein Gehalt müsse indessen verbucht sein, er habe Frau Gärtner gebeten es zu überweisen und nicht per Tüte auszuzahlen. Bald darauf kommt er zurück und hält mir ein Bündel Geld unter die Nase. „Wo hast Du denn mit mal so viel Geld her?, ... das ist doch wohl weit mehr als Dein Lohn, ... oder etwa nicht?“, möchte ich gern wissen, ich weiß immer noch nicht, was Udo im einzelnen verdient. „Das sind über 1000, - DM“, sagt er und fügt hinzu: „Bestimmt ist das Geld vom Kredit jetzt drauf gewesen, ...“. „Ja, ... aber sag` mal, hast Du nicht gleich die Kontoauszüge mitgenommen, dann wüsste man doch, ob es so ist oder nicht, also wie viel Geld genau auf dem Konto ist“.„Nee, hab` ich nicht, ... das wird schon das Geld sein, ... sonst hätte ich es doch nicht bekommen!“. „ Ich weiß nicht, ... ich traue dem Frieden nicht“, gebe ich zu befürchten. „Ach nu, ... jedenfalls ist jetzt Geld da, ... die Auszüge holen wir dann zu Hause!“. Mir lässt es noch immer keine Ruhe. „Aber, ... es ist, ...“. „Ich habe doch den Auszahlungsschein ausgefüllt und auf das Geradewohl das Geld bekommen, ... das ist der Kredit!“, unterbricht er mich siegessicher. Ich gebe mich geschlagen „Wie dem auch sei, ... das Geld reicht ja jetzt ein großes Stück nach vorn, ... aber zu Hause müssen gleich die Auszüge geholt werden, ... es lässt mir keine Ruhe!“. „Das Geld nehmen wir jetzt und fahren damit nach Italien!“, sagt er. „Ich weiß nicht, ... wir haben wichtigeres, ... ich habe ein halbes Jahr keine Arbeit, ... wir brauchen Klamotten, ... und wenn es mit der Wohnung klappt, ... das kostet auch noch eine Menge Geld“, bezweifle ich sein Vorhaben. „Mein Lohn war ganz sicher drauf, ... plus das Kreditgeld, ... wie soll es anders sein, ... wir haben doch 10.000 DM beantragt, und jetzt offensichtlich auch bekommen, ... auch wenn es lange gedauert hat, ... wenn wir das alles hier ausgeben, dann bleibt noch genug für alles andere, ... jetzt fahren wir und fertig!“, sagt er und schwenkt das Geldbündel in der Luft herum. Meine Zweifel bleiben ungeachtet und der Vorschlag, lieber noch einmal zur Bank zu gehen wegen den leidigen Kontoauszügen, wird mit einer abweisenden Handbewegung dementiert. Also fahren wir direkt von meinen Eltern, die diese Debatte nicht mitbekommen haben über München nach Italien. Carlo hat noch Ferien, Udo noch Urlaub und ich bin bis auf das Kuchen backen ohnehin zu Hause. Mich beschäftigt diese ungewisse Geldsache noch eine ganze Weile, ... sollte diese Kreditauszahlung tatsächlich erfolgt sein?, ... dann kommt der Gedanke, das erste Mal im Ausland zu sein die Oberhand. Bisher hat es mir nie gefehlt, wie schon gesagt, ich war bisher mit den Urlauben an der See voll zufrieden, habe aber, wie ebenfalls schon gesagt, noch nicht weiter über andere Möglichkeiten nachgedacht gehabt. Nun ist man unterwegs und zwangsläufig weckt es die Neugierde auf etwas neues unbekanntes. Weil ich keinen Führerschein habe, muss Udo allein das Auto steuern und der Bierkonsum hält sich in Grenzen. Wir schlafen im Auto, stellen es dazu am Abend irgendwo abseits am Straßenrand ab und niemand stört sich daran. Gewaschen haben wir uns in den Toiletten, das geht ganz gut, besonders für Carlo ist es eine tolle Sache. Miss. Elli ist natürlich auch dabei und bellt lauthals darauf los, wenn jemand dem Auto zu nahe kommt. Ich vergesse nach und nach ein wenig meine Sorgen und Befürchtungen und erlebe die erste Reise die aus Deutschland hinausführt. Wir fahren bis nach Venedig, essen original Spagetti mit Tomatensoße und Pizza. Das Wetter spielt mit, es regt sich die Hoffnung, ich würde mich vielleicht doch noch an alles gewöhnen und es könnte mir damit gelingen, einen kleinen Abstand zur vermissten Heimat, Eltern und Freunden herzustellen. Etwas abgelenkt vergesse ich zwar auch auf Reisen diesen einen bestimmten Geburtstag nicht, aber es fühlt sich ein wenig wie aufgehoben oder beiseite gelegt an. Wenn Udos Alkoholproblem sich so in Grenzen halten würde, wie es während dieser Tage der Fall ist, dann könnte es mir vielleicht nach und nach gelingen, auf für mich noch sehr fremden Boden Mecklenburgs irgendwann wenigstens ein bisschen Halt zu finden. Meine Heimat wird es niemals werden, das weiß ich vom ersten Tag meines Hierseins an. Mit diesen recht zuversichtlichen Gedanken treten wir nach vier Tagen die Heimfahrt an, der Opel klappert manchmal ein wenig verdächtig, aber hält durch bis nach Hause, wo schon bald eine böse Ernüchterung wartet. Es ist noch Geld da, aber nicht sonderlich viel, Udo hat für sich beim Einkauf in Italien tüchtig zugeschlagen, sich eine teure Lederjacke gekauft und einige andere nicht gerade billige Dinge. Ich habe für Carlo und Henny jeweils zwei hübsche T - Shirts gekauft, mir selber zwei Tops gegönnt und einen lang ersehnten Leinenblazer. Während Udo an seinem letzten freien Tag zur Bank geht, um die Kontoauszüge zu holen, mache ich mich über das Waschen der Urlaubsklamotten her, Carlo ist mit Raffael unterwegs. „Das war` s dann!“, meint Udo, als er zurückkommt und die geholten Auszüge zum ersten male „öffentlich“ vor mir auf den Tisch packt. „Wieso?, ... was ist los?“, frage ich mit einem unguten Gefühl im Bauch. Er haut mehrmals mit der Faust auf den Tisch, schreit mich an: „Dann schau her!, ... nichts ist mit Kreditgeld!“. Ich sehe mir die Auszüge durch. „Ja, dann muss doch das Konto schon im Minus gewesen sein als Du in Seelstein das Geld abgehoben hast?!, ... aber ich habe mich ja gleich gewundert über so viel Geld und gesagt, hole lieber die Kontoauszüge bevor wir, ...“. „Tja, ... hätte, ... jetzt bin ich noch schuld daran oder was?, ... klar muss schon minus gewesen sein, wenn mein Lohn noch nicht drauf war und alles sowieso schon in den Miesen, ... die haben nicht aufgepasst und alles durcheinander gebracht!, ... die kommen mit dem neuen Kontensystem nicht zurecht, … ich weiß es doch auch nicht!“, ... unterbricht er mich barsch. „Und jetzt?, ... was wird nun, ... was machen wir jetzt?“, wage ich nachzufragen. „Ja, ich habe jetzt kein Geld bekommen, weil der Lohn, der zwar jetzt drauf ist lange nicht ausreicht, um das Konto wieder auszugleichen, ... es war eh schon im Minus vorher!“. Mir wird vor Angst und Schreck ganz übel. „Aber wieso kann es sein, dass soviel Minus da war, bevor Dein Geld eingegangen ist, Du musst doch wissen, wann und was Du abgehoben hast und wofür!, ... und dann noch das, was Du in Seelstein geholt hast, ... na dann gute Nacht!, was hast Du gemacht mit dem anderen Geld?, ... wo ist es geblieben?“. Er zuckt nur mit den Schultern: „Du hast ja in Italien auch etwas gekauft, ... nicht nur ich!“. „Darum geht es jetzt doch gar nicht, nun bin ich wohl noch an allem schuld?, ... oder wie sehe ich das?, sag` mir lieber, was wir jetzt machen sollen?“, verteidige ich mich und bin froh, dass ich mein Gehalt von Vogenschmidts immer per Lohntüte ausgezahlt bekommen habe, weil ich nach dem Umzug noch kein eigenes Konto habe, sondern es gibt zur Zeit eben nur Udos, von dem gerade die Rede ist und von dem ich wie gesagt bislang keine Kenntnis über dessen Stand hatte, geschweige denn was Udo verdient. Ein erneutes Schulterzucken und eine abwertende Handbewegung von Udo sind die Antwort auf meine Fragen. Ich kriege den „Schwarzen Peter“ zugeschoben und mir wird klar, ich muss alleine sehen, wie aus der Misere herauszukommen ist, er wird sich keine Gedanken machen und sich noch viel weniger den Kopf darüber zerbrechen. Meine Vermutung bestätigt sich bereits am nächsten Tag, er kommt nicht nur angetrunken, sondern total besoffen nach Hause, meine geheimen Hoffnungen, die ich in Venedig gehegt habe, zerschlagen sich, noch bevor ich sie zu Ende denken oder hoffen konnte. Am darauffolgenden Tag gehe ich ich wie vereinbart zu Vogenschmidts, den bestellten allwöchentlichen Kuchen abzuliefern. „Na, Meggy, ... wie geht es Dir? ... hast Du inzwischen Dein Arbeitslosengeld bekommen?“, fragt mich Frau Vogenschmidt, mit der ich indessen so wie mit allen anderen auf meiner Arbeitsstelle per du bin. „Ich?, ... was für Geld?, ... nein, wieso, ... ich verstehe nicht“, frage ich irritiert. „Bist Du denn nicht mit den Papieren, die Du von uns bekommen hast auf dem Arbeitsamt gewesen und hast Dich gemeldet?“, fragt Caroline erstaunt nach. „Was denn für Papiere?, ich verstehe das alles nicht“, frage ich ungläubig. Herr Vogenschmidt kommt aus der Küche in den Gastraum, in dem wir uns gerade unterhalten. „Walter, hast Du nichts gesagt?, hast Du die Unterlagen gar nicht fertig gemacht und der Meggy übergeben?“. „Nein,... ich dachte Du hast das gemacht“, antwortet er perplex, ich stehe noch immer an der gleichen Stelle und starre Löcher des Unverständnisses in die Luft. Caroline gibt mir mit zittrigen Händen das Geld für den Kuchen. „Mensch, Meggy, das tut mir leid, dass das schief gegangen ist, ... Du bekommst doch Arbeitslosengeld wenn Du entlassen wirst, ... bis Du wieder Arbeit hast, wir machen die Papiere noch heute fertig, dann kannst Du sie morgen abholen, damit gehst Du sofort zum Arbeitsamt, damit Du endlich Dein Geld bekommst!“. So mache ich das dann auch, aber nun würde es ein Stück dauern bis ich das Geld bekomme, wenigstens weiß ich jetzt, dass man vom Amt Geld erhält, wenn man keine Arbeit mehr hat.
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