Ab Februar 1992 fahre ich mit Udo nicht mehr mit, ich bin nicht gewillt, weiter den Aufpasser zu spielen. „Zieh Dich an, ... oder fährst Du heute nicht mit?“, fragt er. „Nein, ich fahre heute nicht mit, und ich werde überhaupt nicht mehr mitfahren“. „Und, ... warum auf einmal nicht?“, hakt Udo nach. „Das will ich Dir sagen, ich habe einfach keinen Bock mehr, verstehst Du?, es ist mir mittlerer Weile egal was Du machst und ich habe Dir schon mal gesagt, dass Du es Dir aussuchen kannst, ... entweder Du lässt Dich behandeln und machst eine Entziehung, ... oder aber, Du machst so weiter und musst mit den Konsequenzen rechnen“. „Was is` n das für ein Unfug, Alkoholentzug!, ich trinke doch nicht, … willst Du mir verbieten, ein Feierabendbier zu trinken?“, entgegnet er mit bereits einer Fahne. „Ich?, ... ich verbiete Dir gar nichts, aber Du hast nichts verstanden, ... gar nichts!“, antworte ich und frage mich gleichzeitig ernsthaft, ob er sich so doof stellt oder es tatsächlich ist. „... Und ich sage Dir noch etwas, ich verlange von Dir,dass Du ein wenig freundlicher mit meinem Kind umgehst, ich dulde nicht, dass Du Carlo grundlos anschnauzt. Wenn Dir etwas missfällt, dann sage es mir bitte, oder rede in einem vernünftigen Ton mit ihm, … und noch etwas, die Autoraten laufen über Dein Konto, Du wolltest alles so haben, und Du bist auch verantwortlich dafür, ich habe nur mit unterschrieben, für Januar ist eine Mahnung gekommen, ich habe Dir aber meinen Anteil gegeben, sorge bitte auch dafür, dass alles damit in Ordnung ist“. Auf alle angesprochenen Themen bekomme ich keine Antwort, er sagt nur: „Tja, nun, ... dann fahre ich eben alleine“.
In den Winterferien freue ich mich, meine Heimat wieder zu sehen, in Seelstein liegt so viel Schnee, ich kann mit Carlo zum Schlittenfahren gehen. Udo ist auch mit nach Seelstein gefahren und ich bin froh, dass er sich recht und schlecht zusammenreißt. Ob er es nun meinetwillen tut oder wegen meiner Eltern, um diesbezüglich keinen Anlass für spezielle Gespräche zu provozieren, bleibt dahin gestellt. Ich will meine Eltern nicht verunsichern, erzähle ihnen nichts von meinen kürzlichen, nächtlichen Überlegungen in Bezug auf eine Rückkehr nach Seelstein, ich bin zwar nahe daran, aber es sind noch andere Ohren dabei, wenn, ... dann müsste ich schon allein mit meinen Eltern sprechen, ... wenn ich es überhaupt schaffe, dieses Thema aufzugreifen. Dass ich „überfällig“ bin, davon sage ich natürlich auch nichts, ich will keine Pferde scheu machen, aber ich beschäftige mich unweigerlich damit, ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen noch einmal schwanger zu sein, ... es würden sich Probleme on Mass dadurch einfinden.
Als wir aus Seelstein zurückkommen haben wir Ende Februar, in Domstedt gibt es nur noch ein paar Schneefetzen an den Straßenrändern. Udo fährt weiterhin mit dem Auto, ... im alt bekannten Zustand und ich „warte“ fast darauf, dass es früher oder später Ärger geben würde. Es wundert mich nach wie vor, dass er keine Angst hat, eines Tages in eine Verkehrskontrolle zu geraten und den Führerschein loszuwerden, ... oder schlimmer noch, jemanden Unschuldiges mit hinein zuziehen und zu verletzen.
Anfang März, eines morgens beim Zähne putzen fange ich an zu würgen, sobald ich die Zahnbürste in den Mund stecke, ... von da ab weiß ich was mit mir los ist. Ich brauche eigentlich nur noch zum Arzt zu gehen, um mir die Schwangerschaft bestätigen zu lassen, ... wie bei Carlo damals. Trotzdem gehe ich nicht gleich zum Arzt, sondern horche noch eine Zeit in meinen Körper hinein, klammere mich trotz meiner eigenen sicheren „Diagnose“ an den Gedanken, es ist vielleicht doch Zufall und mir ist von irgendetwas anderem übel, vielleicht habe ich mir den Magen verdorben, ... es soll ja auch Frauen geben, die sehr früh in die Wechseljahre kommen, ... vielleicht gehöre ich auch dazu?. Aber dann wiederholt sich das Zahnbürstendrama jeden Tag auf` s neue, am Tag bin ich schrecklich müde, wenn ich mich mittags hinlege, ist mir anschließend schlecht und schwindelig, ... ich komme kaum wieder in Gange. Nun entschließe ich mich doch, einen Frauenarzt aufzusuchen, ich treffe auf eine Frau Dr. Gambrinus in Wiesenstadt, eine Asiatin. Bis zum letzten Moment klammere ich mich an die sehr wage Vorstellung, vielleicht doch nicht schwanger zu sein. Als ich dann erfahre, es ist doch noch einmal ein Baby unterwegs, bin ich wie erschlagen, ... tausende Gedanken stürmen auf mich ein, es trifft mich trotz sicherer vorheriger Eigendiagnose so hart wie ein Blitz. Ich sitze der Ärztin gegenüber und äußere erst mal spontan die Absicht, mein Kind nicht austragen zu können, ich habe berechtigte Gründe dafür, die größte Angst besteht darin, das Kind könnte auf Grund Udos starken Alkoholkonsums einen Schaden davon tragen, zudem bin ich 39 Jahre alt, ich habe Bedenken, den Anforderungen nicht mehr ausreichend gerecht zu werden und ich kann nicht sagen, dass das Leben mit Udo ein schönes ist. Ich bin total am Ende an diesem Tag. Die Frauenärztin redet auf mich ein, verspricht mir, genaue Untersuchungen vorzunehmen um festzustellen, ob das Kind gesund ist oder nicht. „ Gehen Sie erst mal nach Hause und legen Sie sich ein wenig hin, denken Sie genau darüber nach, was ich Ihnen gesagt habe. Wenn die Untersuchungen, die sich bis Mai hinziehen werden ergeben, dass Ihr Baby nicht gesund zur Welt kommen wird, ... dann können Sie sich immer noch entscheiden, die Schwangerschaft abzubrechen, ... auch wenn dann bereits die übliche Ablauffrist, in der ein Eingriff vorgenommen kann werden verstrichen ist. Wenn das Kind schwere Schäden haben wird, was bei den Untersuchungen festgestellt werden kann, dann ist das anders und eine Ausnahme. Es ist dann Ihre alleinige Entscheidung, ob Sie das Kind trotzdem austragen wollen oder nicht ". Wie im Taumel verlasse ich die Praxis und ich muss, wenn ich hier in meinem Buch bei der absoluten Wahrheit bleiben soll sagen, dass ich im allerersten Moment gedacht habe: Mariannes Aufklärung ist für mich zu spät gekommen, es tut mir leid das sagen zu müssen, aber es ist eine Tatsache, dass ich diese Worte von ihr im Kopf hatte. Ich war viel zu viel mit diesem Ekel und der ganzen Abscheulichkeit beschäftigt, dass ich in keiner Weise den Gedanken gehegt habe, ich könnte auch schwanger werden, ... alles idiotisch, ... nicht wahr?. Ich fahre zurück nach Hause, Carlo ist bereits aus der Schule zurück. „Carlo, ... ich wärme Dir den Grünebohneneintopf auf und lege mich dann hin, mir geht es nicht so besonders gut heute“. „Bist Du krank, ... Mutti?“. „Nein,.. nein, ... ich bin nicht krank, ich habe nur ein bisschen Kopfweh und bin sehr müde, ... mach Dir keine Sorgen, das wird schon wieder, bitte mache dann auch Deine Schularbeiten, ich sehe sie mir später an“. „Ja, ja is` gut, … mach` ich, ... kann ich dann noch rausgehen, wenn ich fertig bin?“. „Ja, … geh` nur, aber Du weißt, wenn es dunkel wird, dann kommst Du herein bitte!“. Ich lege mich auf die Couch, gegen alle meine sonstigen Gewohnheiten lasse ich alles stehen und liegen, ... mir ist alles egal für den Rest des Tages. Udo sage ich vorerst nichts, eine Woche später gehe ich zur Telefonzelle und rufe zu Hause an und berichte von den Neuigkeiten. Meine Mutter ist am Telefon und nachdem ich ich alles mehr oder weniger herunter gestammelt habe, seufzt sie und meint, ich solle mir alles gut überlegen, ich müsse selber wissen, was ich mache, ... von meinen Befürchtungen sage ich nichts.
Zwischendurch muss ich Kontakt zu Carlos Vater aufnehmen, ich habe schon längere Zeit die paar Mark Unterhalt von ihm nicht erhalten. Zu meiner Überraschung regelt Gernots Vater das Problem, er meint, Gernot hätte sowieso nie Geld. Er schlägt mir vor, eine einmalige höhere Summe zu zahlen, wenn ich anschließend auf weitere Zahlungen von Gernot verzichte. Ich finde es zuerst nicht gerade ideal, es entgeht mir insgesamt mehr Geld über die nächsten Jahre, als dass ich im Moment davon habe, aber ich lasse mich dann doch darauf ein, weil ich die absolute Möglichkeit in Betracht ziehen muss, ansonsten eventuell überhaupt kein Geld mehr für Carlo zu bekommen. Ich kann so für Carlo mal großzügiger Klamotten kaufen gehen und habe noch einen Notgroschen liegen.
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