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Wir halfen bei der Zerstörung des Vernichtungsgeländes, mussten die Spezialanlagen niederbrennen und alles zerstören, was übrig blieb. Und dann wurde ich beim morgendlichen Zählappell ausgesondert. Transport ins Lager B II b. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, aber die Schritte, die mich aus dem Lager Auschwitz hinaustrugen, fühlten sich an wie Befreiung. An Befreiung glaubte ich nicht wirklich, hatte sich die SS doch immer wieder einen Spaß daraus gemacht, Gefangene in Sicherheit zu wiegen, um sie Augenblicke später grausam zu ermorden.
Der dunkle Viehwaggon des Zuges, den ich zusammen mit anderen Ausgesonderten bestieg, konnte mein Vertrauen nicht wecken. Einzig die Lok stand nicht in Richtung der Krematorien. Als der Zug schließlich anhielt, befanden wir uns im Lager Groß-Rosen. Dort nahmen wir noch zweihundert weitere Frauen auf, die scheinbar nicht auf der Liste standen. Nach kurzer Fahrt, hielt der Zug auf freiem Feld. Der Fußmarsch von einer Stunde brachte uns in ein weiteres Lager. Alles ist wie zuvor, nur die Kojen teilen wir nicht zu acht, sondern zu zweit, und waschen dürfen wir uns auch.
Tag x
Der Winter ist eingekehrt. Hunger, Märsche durch kalten Schnee, Frostbeulen und Arbeit begleiten uns durch den Tag. Immerhin: Die Fabrikhalle, in der wir zusammen mit Zivilisten arbeiten, ist beheizt. Ich muss bei Bedarf einen Zylinder mit Gas austauschen. Das Zeug ist eiskalt und brennt auf der Haut. Die Frau neben mir schmuggelte mir heute heimlich ein Butterbrot zu. Ein Fest! Auch die anderen bekommen ab und zu von den Zivilistinnen etwas zugesteckt.
Tag x
Es ist so bitterkalt, dass jeder auf seine Habseligkeiten aufpassen muss - es wird gestohlen. Alles, was man nicht am Leib trägt, findet man ein paar Tage später bei jemand anderem wieder. Für das Verfeuern einiger Pritschenbretter wurden wir hart bestraft. Ein Tag ohne Essen und die Kahlrasur dreier Mädchen. Ich bin darunter. Jetzt muss ich mir einen alten Fetzen um den Kopf binden, um nicht zu erfrieren.
Tag x, Februar 1945
Geschützfeuer. Wir haben es deutlich gehört. Jeden Tag horchen wir, wie weit die Sowjettruppen vorgerückt sind. Bald werden sie in Reichenbach sein.
Tag x
Noch bevor die Russen Reichenbach besetzen konnten, mussten wir das Lager verlassen. In der Nacht wurde ein Zählappell veranstaltet, und es war bald klar, was auf uns wartete: die Evakuierung. In einer langen Kolonne machten wir uns auf in Richtung Eulengebirge – von Schlesien nach Polen.
Der Marsch war furchtbar. Wer keine Kraft mehr hatte und zusammenbrach, wurde erschossen oder erschlagen. Niemand durfte lebend zurückbleiben. Der Aufstieg in die Berge kostete viele das Leben, denn der festgetretene Schnee war rutschig und machte das Vorwärtskommen sehr anstrengend. Wir mussten ja auch das Eigentum unserer Aufseher tragen. Meine Füße schmerzten, und ich musste sämtliche wärmenden Kleidungsstücke ablegen, um mich von schwerem Ballast zu befreien. Ich wusste, dass ich das bald bereuen würde. Aber ich wollte nicht hier auf dem Weg sterben, nicht nach all der langen Zeit des Überlebens. Wir redeten uns gegenseitig zu, schleppten und zogen einander. Einige konnten wir so davon abhalten, sich einfach fallen zu lassen. Aber viele erfroren in der Nacht, in der wir keinerlei Schutz vor der Kälte fanden.
Trotzdem stiegen wir am Morgen weiter auf. Und wurden belohnt. Kein Grat, sondern eine wunderschöne Hochebene empfing uns. Der Anblick war so schön, dass wir ihn trotz des Hungers, der Schmerzen und des trüben Blicks in die Zukunft wahrnahmen. Die Menschen, die dort friedlich saßen, waren teilweise mit Fuhrwerken hergekommen, andere zusammen mit ihrem Vieh zu Fuß – Flüchtige. Ausgehungert stürzten wir uns auf ihre Wagen, plünderten sie und versuchten den Eutern ihrer erschreckten Kühe einige Tropfen Milch zu entlocken. Die SS-Leute versuchten nur halbherzig, uns zu stoppen, und die Menschen ergriffen in Panik die Flucht.
Tag x
Seit Tagen ziehen wir umher. Die SS-Leute scheinen nicht zu sehen, dass ab und zu kleine Gruppen von uns die Nester im Hühnerstall eines Bauernhofs oder einen vorbeiziehenden Kartoffelkarren plündern. Vielleicht wollen sie es auch gar nicht sehen. Die Kolonne wird von Tag zu Tag kürzer. Mädchen und Frauen bleiben am Wegesrand zurück - erschlagen, erfroren oder völlig entkräftet. Stückweise schleppen wir die Erschöpften mit und werden dann wieder selbst mitgeschleppt. Die kalten Nächte sind für viele das Todesurteil. Wie lange werden wir noch unterwegs sein? Niemand scheint das Ziel zu kennen.
Tag x
Nachdem wir das Lager Trautenau erreichten, erhielten wir nach langer Zeit des Hungerns eine Brotration. Wenige Tage später wurden wir in den offenen Kohlewaggon eines Zuges gedrängt. Nach Stunden, die wir in Eisregen und Schnee stehen mussten, ging die Fahrt los über Nebenstrecken durchs Land und an kleinen Dörfern vorbei. Die ganze Nacht bewegte sich der Zug langsam und stockend vorwärts, und nur das Aneinanderdrängen schützte uns vor dem Erfrieren.
Am dritten Tag war klar, dass wir im Kreis gefahren waren. Am fünften Tag war der Waggon von Kot und Urin so verschmutzt, dass es kaum noch auszuhalten war. Am sechsten Tag im Zug stoppte er wieder einmal. Inzwischen lagen wir kraftlos übereinander. Keine von uns konnte mehr stehen und sich von den Exkrementen am Boden fernhalten. Wir waren in Porta Westfalica. Nur ein kleiner Teil derer, die den Marsch angetreten haben, sind noch am Leben.
Tag x
Wir sind wieder in einem Lager. Geführt wird es von holländischen Gefangenen. Der Ablauf ist derselbe wie in Auschwitz – morgendlicher Zählappell, Marsch zur Arbeit in einer in den Felsen geschlagenen Munitionsfabrik, ein unendlich langer Arbeitstag, der beschwerliche Weg zurück, abendlicher Zählappell und Lagersuppe, danach eine kurze Nacht.
Tag x
Der Frühling bricht heran. Fliegeralarm ununterbrochen. Und wir träumen von Befreiung. Stattdessen Marschbefehl. Beim Zählappell fiel mein Buch auf den Boden. Wieder unterwegs.
Tag x
Fallersleben. Beinahe wäre das Buch entdeckt worden. Gerade, als der Kommandant in unserer Nähe war. Er starrte auf das Buch zu meinen Füßen. Ich war wie gelähmt, unfähig etwas zu tun. Ein Mädchen in der Reihe hinter uns begann plötzlich zu schreien. Sie warf sich auf den Boden und schrie Unverständliches. Eine der Kapo-Frauen zerrte sie aus der Reihe und ich nutzte die Gelegenheit, das Buch vom Boden aufzuheben. Ein Schuss fiel und gleich danach setzte sich die Kolonne in Bewegung. Meine Nachbarin riss mir das Buch aus der Hand und reichte es weiter – es verschwand wie schon so oft auf geheimnisvolle Weise und erreichte mich heute wieder.
Wir kampieren in den Trümmern der Volkswagen-Werke und warten die Luftangriffe der Alliierten ab. Keine Zählappelle, keine Arbeit, keine gewohnte Ordnung. Es gibt sogar einen funktionierenden Wasserhahn und Toiletten. Nur der Hunger lässt uns nicht ruhen.
Tag x
Erneut unterwegs im Viehwagen. Seit Stunden warten wir im Dunkeln zusammengepfercht, dass es los geht.
Tag x
Bei der Ankunft im Lager Bergen-Belsen warteten bekannte Gesichter auf uns, in die wir glücklicherweise dann doch nicht blicken mussten. Wegen der Überfüllung des Lagers nahm man uns nicht auf, und uns blieben die altbekannten Spezialbehandlungen der altbekannten Kapos und Lagerkommandanten erspart. Dafür mussten wir zurückmarschieren zu den Waggons. Viele Züge standen dort hintereinander auf dem Gleis. Unzählige Waggons, aus denen leises Wimmern zu uns drang. Bevor uns bewusst wurde, dass hier tausende zum Sterben abgestellt worden waren, pferchte man auch uns in die Güterwaggons, die anschließend zugenagelt wurden.
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