Die Luft wurde immer dünner und feuchter, und jede von uns kämpfte um einen Platz auf dem Boden oder an der Wand, wo Hoffnung auf einen winzigen Lufthauch bestand. Ich fand einen schmalen Riss, durch den ich gierig die wenige Luft einsog, die er durchließ. Stöhnen und Wimmern ließen immer mehr nach, wurden zu ersterbendem, leisem Röcheln. Eine nach der anderen erstickte. Und ich fragte mich, wie viel Zeit mir noch blieb.
Irgendwann hörten wir Schritte und Stimmen und machten uns mit letzter Kraft bemerkbar, hämmerten mit den Fäusten gegen die Waggonwand. Als man endlich den Waggon aufbrach, hatten vierzehn von uns überlebt. Alle anderen waren erstickt. Und auch aus den übrigen Waggons drang kein einziger Laut. Wieder habe ich mit einigen anderen überlebt, um in ein weiteres Lager zu gelangen. Salzwedel.
Tag x
Nun sind auch die kleinen Portionen Lagersuppe, die uns bisher gerade am Verhungern hinderten, eingestellt. Wir ernähren uns von rohen Rüben. Der Hunger zerreißt uns beim Anblick der Brotlaibe auf der anderen Seite des Zaunes, wo die kampieren, die über unser Leben entscheiden.
Es ist Frühling, und die Alliierten rücken näher und näher und mit ihnen die Befreiung. Jetzt einfach verhungern? Nach all dieser Zeit und all den Qualen? Mit den verfaulenden Rüben, die man uns vorgestern noch gebracht hat, werden wir nicht lange überleben können. Ich will nicht verhungern!
Freitag, 13. April 1945
Endlich wieder eine Orientierung im Kalender. Heute Morgen ging über uns das erste Geschoss nieder. Einige von uns sind durch die herumfliegenden Splitter verletzt. Werden wir bald fliehen können? Eben flatterten Papierfetzen über unsere Köpfe – französische Kriegsgefangene warnen uns vor Kabeln, die sich rund um das Lager befinden. Mit diesen Minen ist es uns unmöglich, das Lager zu verlassen. Aber die Franzosen wollen uns helfen.
Die Stille der Nacht ist nervenaufreibend. Zwei von uns überlegen, zu testen, ob durch den Zaun noch Strom fließt. Ich weiß nicht, ob das gut ist, will nicht, dass sie sterben, doch sie lassen sich nicht aufhalten.
Sie schreien! Aber das sind keine Schreie des Leidens. Sie schreien laut, um auf sich aufmerksam zu machen. Ich höre Motoren ... Panzer ... Sie kommen! Wir
Hier bricht die Schrift ab, das Buch scheint zu Ende zu sein. Pierre hält es, starrt es an und kann es nicht zuschlagen. Auch, wenn sich der Zusammenhang der Notizen für ihn an einigen Stellen nicht immer erschließt und ihm die genannten Städte und Orte völlig unbekannt sind, ist klar, um was es geht. Die dicht beschriebenen, schmutzigen Seiten haben ein anderes Buch in seinem Leben aufgeschlagen – eines, das tausend Fragen aufwirft. Er blättert weiter in den noch unbeschriebenen Seiten und ist im Begriff, es endlich zuzuschlagen, als seine Augen plötzlich an einer weiteren beschriebenen Seite hängen bleiben. Die Seite hat etwas Fremdes – die Schrift ist verändert. Pierre liest das Datum des Eintrags.
11. Mai, 1989
Das Drama wird nie aufhören. Die Inkarnation der Grausamkeit ist zurückgekehrt und wird nie mehr aus meinem Leben weichen. Der Hass muss der Liebe Platz einräumen. Mein Buch und ich werden schweigen müssen. Für immer.
Das sind wirklich die abschließenden Zeilen in diesem Zeugnis der Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges. Pierre spürt, dass diese letzten Worte, geschrieben 44 Jahre nach der Befreiung, ein anderes Kapitel im Leben der Autorin meinen. Eines, das auch ihn betrifft.
6
Eine Woche ist beinahe vergangen. Morgen werden seine Eltern zurückkommen. Aber nichts wird mehr so sein wie zum Zeitpunkt ihrer Abfahrt. Die ganze Nacht wälzt sich Pierre unruhig im Bett hin und her. An Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Die Momente, in denen er in einen Traum gleitet, sind kurz, denn immer wieder schreckt er auf. Das lederne Buch liegt wieder an seinem Platz in Mamans Sekretär, aber es kostet Pierre seinen Frieden. Zu viele Fragen stehen im Raum. Fragen, die Löcher reißen in die Geschichte seiner Familie. Unerträgliche Löcher. Zu wenig weiß er über die Vergangenheit, die doch so untrennbar zur Gegenwart gehört. Zu wenig und doch zu viel.
Er möchte so gern fragen und gleichzeitig sein Gewissen erleichtern. Da steht etwas zwischen ihm und seiner Mutter und vielleicht auch zwischen ihm und seinem Vater, was nicht dort bleiben darf. Es gehört besprochen und weggeräumt. Tausend Ansätze zu einem Gespräch gehen ihm durch den Kopf. Tausendmal „Du, Maman, ich hab eine Frage …“ und tausendmal verwirft er sie wieder. So banal kann man doch ein solches Gespräch nicht beginnen! Aber doch besser banal als gar nicht und an den Fragen ersticken.
Luft muss ins Zimmer! Pierre springt nervös aus dem Bett und öffnet das Fenster. Der volle Mond scheint ihm ins Gesicht, als er die kühle Luft tief in seine Lungen saugt. Sein Herz schlägt laut, und er fühlt sich wie die jugendliche Tagebuchschreiberin auf nächtlicher Nahrungssuche, immer in großer Angst entdeckt zu werden. In wenigen Stunden werden seine Eltern auf dem Flughafen landen und nach Hause fahren. Pierre hat keine Ahnung, wie er ihnen unter die Augen treten soll. Es geht nicht mehr nur um die Handysuche. Das Handy ist ihm längst egal.
Nachdem er es noch ein letztes Mal mit Schlafen versucht hat, steht er schließlich auf und zieht Jogginghose, Sweatshirt und Laufschuhe an. Es dämmert bereits, als Pierre das Haus im Laufschritt Richtung Park verlässt. So wenig wie er geschlafen hat, müsste er eigentlich nach dem Lauf erschöpft genug sein, um noch etwas aufs Ohr zu legen, bevor seine Eltern eintreffen. Auf den letzten Metern seiner Strecke sieht er auf die Armbanduhr. In zweieinhalb Stunden werden sie die Haustür aufschließen, durch die er jetzt mit klopfendem Herzen das Haus betritt. In der Küche setzt er die Wasserflasche an den Mund und trinkt.
„Was ist los mit mir?“ Pierre und lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen. Sein Puls rast und macht nicht die leisesten Anstalten sich zu beruhigen. Langsam steht er auf und geht hinauf ins Bad, um zu duschen. Unter der Dusche kommen die Bilder aus dem Buch zurück. Nackte Menschen zusammengepfercht in einem Raum. Einige beten, es möge nur eiskaltes Wasser sein, das auf sie niederprasseln wird, andere sind ahnungslos und warten auf Wasser. Sie bekommen – Gas.
Die Bilder lassen Pierre nicht los, und auch mit dem gröbsten Waschhandschuh und einer Million Liter Seife könnte er sie nicht wegwischen. Er wirft das Duschgel verzweifelt in die Duschwanne und rutscht weinend mit dem Rücken an den Fliesen hinunter. Unter dem Duschstrahl hockend schluchzt er:
„Wer warst du? Wie hast du dieses Buch verstecken können?“
Pierre muss wissen, ob wirklich seine Großmutter die Tagebuchschreiberin war. Er sieht auf, schluckt kräftig und fasst einen Entschluss. Es ist unmöglich, mit dieser löchrigen Vergangenheit weiterzuleben. Noch heute wird er mit seinen Eltern reden. Er hat einen Fehler gemacht, indem er die Schublade geöffnet hat. Aber irgendwie fühlt sich dieser Fehler nicht wie einer an. Sie werden ihm antworten müssen, und er wird nicht eher Ruhe geben, bis er alles weiß, bis die Löcher gestopft sind und sich eine komplette Geschichte ergibt. Pierre spürt, dass er ein Recht darauf hat, denn er ist Teil dieser Geschichte.
Als er die Dusche abstellt, hört er das Telefon durch die Halle klingeln. Schnell greift er nach einem Badetuch und schlingt es sich um den nassen Leib, als das Klingeln aufhört. Wozu gibt es Anrufbeantworter? Er trocknet sich ab, aber die Ruhe will nicht einkehren. Was, wenn wieder jemand aus seiner Klasse versucht hat, ihn zu erreichen? Er kann es sich ja nun wegen seiner privaten Baustelle nicht mit all seinen Kumpels verscherzen. In Jeans und T-Shirt läuft er die Treppe hinunter, als das Telefon erneut läutet.
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