1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 „Gibt’s noch Fragen?“ Er sieht Max an.
„Ja. Was gibt’s zum Dessert?“, will der wissen. Pierre lacht.
„Sag mal, kriegst du zu Hause nichts zu essen?“
„Na ja, du hast mir etwas Gutes zu Essen versprochen und …“
„… und kein Dreigangmenü“, unterbricht Pierre den in der ganzen Schule bekannten Nimmersatt.
„Schon gut, war nur ein Scherz“, lacht jetzt auch Max und kommt zurück zur Sache. „Was ich noch brauche, ist eine Liste der Ausrüstung, die die Band hier vor Ort braucht, damit wir nachher nicht dastehen wie Idioten, weil uns ein Kabel fehlt.“
„Ich werde später noch eine Mail an Dominic in Los Angeles schicken und die Antwort an dich weiterleiten. Dann weißt, du, was du organisieren musst“, verspricht Pierre und steht auf, um Max klar zu machen, dass er noch zu tun hat.
„Was macht dieser Dominic eigentlich in Los Angeles?“, fragt der Mitschüler.
„Seinen Vater besuchen. Der ist vor zwei Jahren dorthin ausgewandert und Dom besucht ihn regelmäßig. Diesmal ist er übrigens mit der ganzen Band dort und macht im Studio seines Vaters ein paar Aufnahmen.“
„Wow! Das ist ja cool! Dann kommen die ja bald richtig groß raus“, schwärmt Max.
„Na ja, mal abwarten.“
Pierre geht zur Spüle und dreht den Wasserhahn auf.
„Die Musik, die uns gefällt, müssen die Amis noch lange nicht gut finden. Trotzdem glaube ich auch, dass Dom mit seinen Jungs gute Chancen hat.“
Das Hantieren im Spülbecken ist endlich ungemütlich genug, dass auch Max aufsteht. Bevor Pierre auf die Idee kommt, ihn zum Spülen einzuplanen, verabschiedet er sich.
„Dann warte ich auf die Mail. Wir haben ja noch vier Wochen. Wann treffen wir uns wieder?“, fragt er beim Hinausgehen.
„Lass uns telefonieren, ja?“, antwortet Pierre. „Aber denk dran: Bis zum nächsten Wochenende bin ich nur über die neue Handynummer erreichbar.“
„Hä? Wieso bis zum Wochenende?“ Max dreht sich verwirrt um.
Pierre schießt das Blut in den Kopf.
„Ach … ähm … - na ja, bis zum Wochenende werde ich mein altes Handy wohl wieder gefunden haben“, stammelt er.
Max zieht die Stirn kraus.
„Na, wenn du meinst“, murmelt er, als er die Küche verlässt.
Kurz darauf fällt die Haustür ins Schloss. Pierre atmet erlöst auf.
„Glück gehabt. Ich bin aber auch ein Hornochse. Um ein Haar hätte ich mich verraten, und die Sache wäre richtig peinlich geworden.“
Er wirft das Küchenhandtuch auf den Tisch. In der Bibliothek holt er das Buch aus dem Regal und lümmelt sich in den Lesesessel seines Vaters, wo er vorsichtig in den ramponierten Seiten blättert.
5
Tag x
Wieder konnte ich lange nicht schreiben, denn man lauerte auf mich. Durch einen Zufall wurde ich dem Transportdienst zugeteilt. Wir hatten gelegentlich Kleidung ins Hauptlager zu bringen. Jede von uns nutzt die Möglichkeit, zusätzliche Gegenstände hinüber zu schmuggeln. Sie dienen als Bestechung für die Kapo-Frauen, wenn wir mit Gefangenen, die wir kennen, kurz sprechen möchten. Beim Transport einer kleinen Konserve bin ich aufgefallen und musste zahllose Peitschenhiebe über mich ergehen lassen und mit blutendem Rücken eine Sporteinheit absolvieren. Eine Sporteinheit besteht aus Kniebeugen, Liegestützen, Springen und Rennen, so lange bis man besinnungslos zusammenbricht. Danach stand ich unter ständiger Beobachtung. Auf das Buch hat während der letzten Wochen wieder eine Mitgefangene achtgegeben.
Tag x
Die Lücken in der Bretterwand zum Raum der Kapo-Frauen sind unsere Nachrichtenquelle, und wir müssen aufpassen, dass keine von uns beim Lauschen erwischt wird. Täglich zehntausend Juden mehr vernichten, lautete Eichmanns Befehl, der die Lagerverwaltung in heftige Schwierigkeiten bringt. Die Kapo-Frauen sprachen darüber. Dadurch erfuhren wir, dass Eichmann der Überbringer eines Befehls aus Berlin war, der vorsieht, vierzigtausend ungarische Juden aufzunehmen und innerhalb von sechs Wochen zu vernichten. Die Brennöfen werden erweitert und ausgebessert.
Tag x
Gestern kam der erste Transport. Menschenmassen standen und warteten auf die Einteilung in zwei Gruppen. Endlose Schlangen verängstigter Mütter und Kinder, die sich aneinander festklammerten, Männer mit unsicherem Blick oder schwatzende Ahnungslose, die glaubten, dass die Misere irgendwann ein Ende haben könnte. Man sagte ihnen, dass sie zur Desinfektion müssten, und sie folgten den Anweisungen der SS-Leute.
Die ständigen Schreie, die wir kaum noch hören, wurden lauter. Sie wurden unerträglich und schließlich wussten wir, was los war: Die Gaskammern konnten die endlosen Massen nicht mehr aufnehmen. Man hat begonnen, die Menschen in Erdgruben bei lebendigem Leib zu verbrennen.
Die SS-Männer töten den kläglichen Rest ihrer Empfindungen mit Unmengen von Alkohol. Wir sind den Schreien, der Verzweiflung, dem Schweiß, den Leichenbergen und den stinkenden Rauchschwaden ohne Betäubung Tag und Nacht ausgesetzt. Sortieren im Akkord meterhohe Berge von Hab und Gut, an denen sich leicht errechnen lässt, dass es Millionen Menschen sind, die hier qualvoll sterben.
Tag x
Das Sonderkommando der Männer, die für die Verbrennung der Körper zu sorgen haben, wechselt beinahe täglich. Für viele von ihnen ist ihre Tätigkeit nicht zu ertragen und sie stürzen sich in den Elektrozaun. Auch von uns haben schon einige den Tod durch den Zaun gewählt. Nur wer es schafft, seine Gefühle und Empfindungen taub zu schalten, hat den Hauch einer Chance. Welcher Preis für einen kläglichen Hauch.
Tag x
Eine Gruppe von 300 Mädchen aus dem Konzentrationslager Majdanek in Polen ist gestern eingetroffen. Wir, die Polnisch können, sprachen ein paar Worte mit ihnen. Wir dachten, sie kämen, um unser Kommando zu verstärken, als sie sich den normalen Vorbereitungen für das Lager unterziehen mussten. Aber noch in der Nacht hat man sie mit Lastwagen zu den Gaskammern transportiert.
Tag x, August 1944
Die Russen sind auf dem Vormarsch. Allein die Auflösung des Lagers in Majdanek ist ein untrügliches Zeichen. Ein Gerücht ist im Umlauf, dass die Evakuierung des ganzen Lagers Auschwitz bevorstehen soll. In der letzten Nacht wurden fünftausend Zigeuner vergast, und die Transporte, von denen kein Häftling zurückkehrt, nehmen zu.
Tag x
Wieder musste ich das Buch in den Untergrund befördern, denn es herrscht Unruhe im Lager. Rudolf Höss ist zurückgekehrt. Wie eine Mitgefangene sagt, hat er einen Befehl von Himmler auszuführen, der die totale Vernichtung des gesamten Auschwitz-Lagers zur Folge hat. Alle Krematorien, Effektenlager und Geräte sollen zerstört und die Gefangenen evakuiert werden. Das ganze Lager soll den Flammen zum Fraß fallen. Was wird aus uns werden?
Tag x
Ein Häftlingsaufstand wurde niedergeschlagen. Die Männer waren erstaunlich gut organisiert, Waffen wurden ausgebuddelt. Zwei der Krematorien wurden bei dem Gefecht zerstört und ein paar SS-Leute mussten ihr Leben lassen. Einige der Häftlinge konnten fliehen, haben wir gehört. Die Strafen für die zurückgebliebenen Aufständischen waren grausam, so grausam wie alles, was wir hier erleben. Auch alle anderen, die daran beteiligt waren, müssen mit Folter und weiteren schrecklichen Strafen rechnen. Wir müssen uns täglichen Sporteinheiten unterziehen, die einige von uns nicht überleben.
Tag x
Zwei weitere Krematorien sind zerstört. Ein weiterer Aufstand? Nein, diesmal waren es die Deutschen selbst, die alle Spuren beseitigen wollen. Wenn sie Mauern und Kamine einreißen, damit die nicht von ihren Gräueltaten erzählen können, was werden sie mit uns machen, mit lebenden Zeugen?
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