Während ich der seltsamen Unterhaltung meiner beiden Freude lauschte, ging mir Schillers Buch durch den Sinn. Wie rein, wie edel, wie erhaben waren alle die Frauen und Mädchen, von denen ich dort gelesen! Auf das durch Schiller verklärte Gemüt wirkten die gemeinen Worte noch widerlicher. Da sie trotzdem ein Glutbegehren nach Frauenhuld in mir erzeugten, wandten sich meine Gedanken der beleidigten Magd zu. Weil sie im Zorn über einen hässlichen Ausdruck davongerannt war, verwandelte sie sich in meinen träumerischen Betrachtungen zum Sinnbilde der Reinheit; ich folgte ihr nach in ihre Kammer, redete sie ehrerbietig an, küsste sie auf die Stirn und auf den Mund, sagte ihr, dass sie mir so viel gelte, wie eine Prinzessin, und dass ich treu an ihrem Bette wachen wolle, trug ihr Gedichte von Schiller vor und phantasierte mich, ohne es zu wissen, lieblich in Schlaf.
Die Rocktragen hochgeschlagen, die Hände in die Taschen versenkt, die Stecken zwischen Arm und Leib geklemmt, die Köpfe tief na vorn geneigt und die Augen halb zugekniffen – so strebten wir dem nassen Sturm entgegen. Die Augen waren feucht und die Wangen; ich wusste nicht, ob das von Schneeregen kam, oder ob ich weinte.
Der Sturm heulte vor Wut, weil er uns nicht hinwerfen konnte, und weil auch die Straßenbäume zu fest standen. Doch freuten wir uns nicht unserer Kraft.
Durch Dörfer marschierten wir, und Menschen sahen zu den Fenstern heraus. Keiner von allen diesen Menschen lud uns ein, in eine Stube zu kommen, uns zu wärmen, auszuruhen und zu stärken.
Johann ging voraus; er ging so schnell, dass wir ihm kaum folgen konnten. Franz wimmerte und klagte sich an, weil er nicht zu Hause geblieben. Am Abend auf der Streu war er so klug und großsprecherisch gewesen, wie ein viel erfahrener, furchtloser Mann, und nun zeigte er sich verzagt, wie ein kleines Kind. Ich bat Johann, nicht so schnell zu laufen; das war aber ein Grund für ihn, noch schneller auszuschreiten, und da ich nicht zurückbleiben wollte, ging mir fast der Atem aus. Johann sagte, er sei durch und durch nass geworden und müsse sich nun im Laufschritt erwärmen. So liefen wir von Ort zu Ort – immer weiter. Und wir hatten noch nicht gefrühstückt.
Unser Bund war nahe daran, der Auflösung zu verfallen; nur durch meine Besonnenheit ward er gerettet. Obgleich ich keuchend nach Atem rang, erzählte ich eine Geschichte von einem Manne, der auf schlaue Weise Krähen fing, und Johann gern solche Tiergeschichten hörte, zwang ich ihn, ohne dass er meine Absicht erriet, langsamer zu gehen. Allmählich brachte ich ihn soweit, dass er meinen Vorschlag, uns irgendwo zum Frühstück hinzusetzten, lebhaft billigte. Als Franz vom Frühstück hörte, bekam er frische Kräfte und hielt gleichen Schritt mit uns.
Wie am vorhergegangenen Tage, erstand ich Brot, Butter und Salz in einem Wirtshaus, und da der Regen nachgelassen und der Sturm sich ein wenig gelegt hatte, konnten wir uns im Freien niederlassen. Wir saßen freilich auf feuchten Grunde; bei unserer großen Müdigkeit kümmerten wir uns aber nicht daran. Der unserer Himmel blieb regendüster; unsere Gemüter dagegen klärten sich beim Frühstück auf, und da Johann während der Unterhaltung den Gesprächsstoff des vorhergegangenen Abends berührte, geriet Franz in eine lachende Lebendigkeit. Aber die gute Laune ging in den nächsten Wanderstunden abermals verloren, da immer aufs Neue stürmische Regen- und Schneeschauer los brachten und der todmatte Franz auch Zahnschmerzen bekam.
Spät nachmittags erblickten wir die Türme von Breslau. Johann sah sie zuerst. Ich ärgerte mich, dass er diesen Ruhm errungen hatte, da ich selbst gern die große Stadt zuerst gesehen hätte. Der Anblick war erhebend für uns alle drei. Mein Herz wogte auf in wilder Begeisterung.
Breslau!… Die große, große Stadt!… War mir doch in der Schule gelehrt worden, dass sie größer sei, als alle Städte des Regierungsbezirks Oppeln insgesamt! In meiner Einbildung lebten Vorstellungen von wolkenhohen Türmen, sechsstöckigen Häusern, meilenlangen Straßen und vornehmen Palästen; ich war begierig, die Liebichshöhe zu sehen, die Pferdebahn, den Dom und die vielen andern Kirchen, besonders aber das Haus, in dem der Bischof wohnte. Wie prächtig und wie groß musste dieses Haus sein! Der Bischof kam ja gleich hinter dem Papste! Er war so berühmt und so mächtig, dass ihm alle Pfarrer und Kapläne in ganz Schlesien gehorchen mussten. Auch die bewunderungswürdigen Plätze und Denkmäler, von denen ich gelesen und gehört hatte, sollte ich bald mit eigenen Augen schauen. Wer in meiner Heimat behaupten konnte, dass er in Breslau gewesen, war von mir als glücklicher Mensch betrachtet worden, weil er sich immerzu freuen konnte in der Erinnerung an die Herrlichkeiten, die er gesehen. Und nun sollte mir selbst dieses Wunder werden!
„Wir sind doch schon weit in der Welt!“ sagte Johann. Doch schämte er sich sogleich seines aufwallenden Empfindens und fügte daher verächtlich hinzu:
„Gegen Berlin und Leipzig ist Breslau gar nicht!“
„Wenn wir jetzt nach Hause kämen und erzählen würden, dass wir Breslau gesehen haben!“ sagte Franz. „Die würden schöne Augen machen!“
Johann meinte, in einer Stunde wären wir drin. Da bleib Franz erschrocken stehen und fragte: „Ihr wollt doch nicht hinein gehen?“
„Wohin denn sonst?“
„Nach Breslau geh ich nicht mit!“ rief er mit Bestimmtheit. „Lieber dreh ich um und geh nach Hause!“ Dann begann er zu weinen.
„Bei dem pickt’s“ sagte Johann und tippte bedeutsam mit dem Finger nach der Stirn. Langsam ging ich mit Johann weiter; Franz blieb zurück und sah uns mit bittendem Gesicht nach. Sein Verhalten war mir unbegreiflich. Ich ging zu ihm hin und fragte zornig, was ihm einfalle und ob er verrückt geworden sei, oder etwa glaube, dass in Breslau die Menschenfresser wohnen. Johann forderte mich auf, den dummen Affen ruhig stehen zu lassen; ich aber fühlte trotz meines Zorns ein tiefes Mitleid für ihn und verlangte zu wissen, was ihm in den Sinn gefahren sei. Unter Schluchzen gab er mir kund, dass er nicht mit in die Fremde gegangen wäre, wenn er gewusst hätte, dass wir nach Breslau gehen würden. Wir hätten ihm das bald sagen sollen; dann hätte er seinen guten Sonntagsanzug mitgenommen. In seinem schlechten Rocke könne er sich nicht in Breslau zeigen. Wenn ich ihn auch auslachte und einen einfältigen Narren nannte, besaß ich doch Verständnis für seine Gefühle. Auch ich hatte mich schon gefragt, ob es passend sei, in schlechter, nasser und schmutziger Kleidung eine berühmte Stadt zu betreten, in der ja lauter vornehme und fein gekleidete Menschen wohnten. Doch ich ließ mein Bedenken nicht merken, sondern tat so, als sei Franz auch in meinen Augen der allergrößte Narr. „Komm doch – sieh doch bloß! Zum Totlachen!“ schrie ich dem vorauseilenden Johann nach und wand und drehte und schüttelte mich so belustig beim Lachen, dass Johann, einen guten Spaß vermutend, herbeieilte. Wir lachten jetzt gemeinsam über Franz und sagten ihm, dass er der dämlichste Esel sei, den Gott geschaffen. Scherzhaft rieten wir ihm, dass er schnell umkehren solle, da ihn die Breslauer, wenn sie ihn sähen, sogleich einfangen und als Affen in den Zoologischen Garten sperren würden.
Unser Spott erschütterte ihn nicht in seinem Entschlusse; er heulte wie ein Verzweifelnder und war nicht von der Stelle zu bringen. Da schlug ich einen anderen Ton an. Während Johann weiter höhnte und spottete und mittendrein auch bedauerte, dass er mit so einem grünen Jungen in die Fremde gegangen sei, redete ich dem verzweifelnden Freunde zu, doch endlich vernünftig zu sein und nicht im Regen auf der Straße stehen zu bleiben. Ich erbot mich, ihm mein einziges Vorhemd zu leihen und ihn mit meiner Bürste sauber abzuputzen. In Breslau – versicherte ich ihm – sei ein sauberes Vorhemd die Hauptsache; wer ordentlich um den Hals aussehe, könne getrost durch die feinsten Straßen gehen. Mit solchen Worten bewältigte ich seine Furcht, bis er mitging. Langsam, watend, immer im Regen, strebten wir jetzt der Stadt zu. Das Hemd klebte mir am Körper; so tief war schon der Regen gedrungen; die rauen Leinwandhosen klatschten mir beim Gehen schwer und nass an die Beine. Als wir die Türme der Stadt schon deutlicher sahen und auch bereits der ersten hohen Häuser zu erblicken glaubten, gingen wir von der Straße ab in ein Gebüsch und bereiteten uns dort für den Einmarsch vor. Ich gab mein Vorhemd hin, das ich selbst gern angelegt hätte; wir bürsteten die Kleider und Stiefel und kämmten unser Haar.
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