Assistiert von Abbé Louis und umgeben vom königlichen Hofkaplan sowie den Militärgeistlichen der Nationalgarde, alle in langen, weißen Messgewändern mit tricolorefarbenen Schärpen, zelebrierte nun Talleyrand die Messe, der Bischof von Autun.
Als erster leistete anschließend La Fayette, der Vizepräsident der Nationalversammlung, auf dem Altar seinen Treueschwur auf die Verfassung.
Gekleidet in eine schwere Staatsrobe aus schwarzweißer, von Gold durchwirkter Seide, saß Marie Thérèse an der anderen Seite der Königin. Sie kannte ihre Mutter zu gut und spürte deren Anspannung, trotz der würdevollen Haltung. Sie wusste, wie trefflich die Königin etwas vortäuschen konnte, auch Begeisterung.
Ihre Anspannung übertrug sich auf die Tochter. Ohne die tiefere Bedeutung seiner Rede zu verstehen, lauschte sie den väterlichen Worten, die versprachen, sich treu an das Gesetz zu halten und mit all seiner Kraft die Artikel der Verfassung zu respektieren.
Respektieren... sich ans Gesetz halten... Der Vater hatte längst weitergesprochen, da hallten diese Worte noch nach in Marie Thérèses Kopf. „Ist denn der König nicht selbst das Gesetz?“, flüsterte sie ihrer Mutter zu, aber die gebot ihr zu schweigen und richtete ihre versteinerten Zügen auf die vielen Köpfe des Volkes ringsumher. Es gefällt ihr auch nicht, was der Vater da macht, dachte das Mädchen und hörte wieder aufmerksamer hin, bekam gerade noch das Ende seines Schwurs auf die Verfassung mit. Danach brach allgemeiner Jubel aus. „Hoch, hoch – hoch lebe der König – hoch! Die Königin – sie lebe hoch!“
Am liebsten hätte Marie Thérèse mitgejubelt, weil das Volk ihre Eltern offensichtlich wieder liebte – ihren Vater, den König – und auch ihre Mutter, die Königin.
Doch sie hatte ja gelernt, wie sich eine Dauphine zu benehmen hatte und schwieg würdevoll, während das Herz in ihrer Brust vor Freude hüpfte – vor Freude und Erleichterung. Denn wenn das Volk den Eltern nicht mehr zürnte... Ihre Gedanken stockten. Aber da war ja noch sie und Louis Charles und Ernestine und Maman Mackau und... Sie alle, die es doch auch angefeindet hatte, ließ das Volk jetzt nicht hochleben.
Trotz aller Freude endete dieser Tag für Marie Thérèse mit nagenden Zweifeln im Herzen.
Nur allzu bald sollten die sich bestätigen. Man versuchte zwar, es vor den Kindern zu verheimlichen, aber die allgemeine Unruhe im Schloss war einfach zu verräterisch. Hellhörig geworden, erhaschten sie, dass ein Mann in die Schlossgärten eingedrungen sei, um die Königin zu ermorden. Daraufhin versammelten sich wieder Menschen vor dem Palais des Tuileries, stürmten und plünderten es. Nur mit Mühe verhinderte die königliche Leibgarde ein Eindringen in Marie Antoinettes Gemach, worin sie sich zurückgezogen hatte, ihre Kinder eng an sich gepresst.
Am dreizehnten November musste der König Zuflucht im Dachgeschoss suchen.
Das Volk – so dachte Marie Thérèse –, ist und bleibt ein Monster, eine Bestie, der ich nie wieder trauen darf.
Ein Dekret, das die Nationalversammlung Mitte desselben Jahres erließ, stürzte den König im darauffolgenden Frühling in einen großen Gewissenskonflikt.
Bei den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten, erfuhr auch Marie Thérèse davon. Jenes Dekret, die „Zivilkonstitution des Klerus“, verlangte Priestern ab, einen Bürgereid auf die Verfassung zu schwören. Der Papst erklärte es am zehnten März 1791 zum Schisma.
Durfte demnach Louis XVI. Die österliche Kommunion vom Pfarrer von Saint-Germain-l'Auxerrois empfangen? Schließlich hatte der den Eid geleistet.
Mit Bangen verfolgte Marie Thérèse, wie ihr Vater am Palmsonntag nach der Messe des nichtbeeideten Kardinals de Montmorency den beeideten Pfarrer mied.
Schnell musste es sich unter der Nationalgarde herumgesprochen haben. Als die königliche Familie aus der Kapelle ins Freie trat, bildete sie nämlich kein Spalier.
Umso sehnlicher erwartete Marie Thérèse die morgige Abreise nach Saint-Cloud. Doch kaum war die Kutsche abgefahren, so stand sie wieder. Warum?
Fragend sah das Mädchen zu seinen Eltern, aber aus deren Mienen sprach nur dieselbe Unruhe. Blicke durch die Fenster mied Marie Thérèse, wusste sie doch, was sich ihr bieten würde. Dem Lärm entsprechend, mussten sich die Monster in unüberschaubarer Zahl vor dem Palais des Tuileries versammelt haben, wollten die königliche Familie offenbar verabschieden – auf ihre übliche Art und Weise.
Das kannte die leidgeprüfte Dauphine ja mittlerweile, wenn sie sich auch niemals daran gewöhnen würde. Die Hände schweißverklebt in den Schoß gedrückt, den Blick über die Köpfe ihrer Eltern hinweg auf das Kutschendach gerichtet, verharrte sie bangend, während die Pferde der Nationalgardisten um das Gefährt herum tänzelten und wieherten. Dazwischen wurde ab und zu das Weinen des Dauphins hörbar. Madame de Rambaud versuchte vergebens, ihn zu beruhigen.
Das Volk schimpfte und schimpfte, steigerte sich immer lauter in seine Wut hinein – wie lange noch? Wie lange noch konnten die Nationalgardisten es davon abhalten, die Kutschen zu stürmen? Und wollten sie das überhaupt? Immer mehr unter ihnen stimmten in die Schmährufe mit ein.
Marie Thérèse rutschte hin und her in ihrem durchschwitzten Kleid, glaubte seit Ewigkeiten hier zu sitzen. Irgendwann bemerkte sie, wie ihre Mutter den Vater auffordernd ansah. Zunächst ignorierte er es, richtete seit geraumer Zeit seine unbewegte Miene stur geradeaus. Plötzlich wandte er sich zum Fenster und erkundigte sich bei einem der Nationalgardisten, ob er fragen dürfe, was denn so lange die Abfahrt behindere.
Er klingt nicht wie ein König, fuhr es der Dauphine durch den Kopf, eher wie ein Diener.
Der Soldat lachte und pflanzte sein Bajonett vor der Kutsche auf. Andere machten es ihm nach. „Welche Abfahrt, Monsieur?“
Niemals zuvor hörte Marie Thérèse, dass jemand ihren Vater so ansprach, zumal ein einfacher Nationalgardist. Monsieur. Beschämt, als hätte man auch sie mit dieser unpassenden Anrede gekränkt, suchten ihre Blicke Zuflucht auf Louis XVI. Gesicht. Sie fanden nur Ratlosigkeit.
Und die Mutter? Marie Thérèse meinte die Tränen hinter ihren Augen förmlich zu sehen und wusste doch: Sie würde ihnen keinen freien Lauf lassen, eher sterben.
Das Mädchen sah auf seine Füße, die in zierlichen Schnallenschuhen steckten, dann erneut zum König und flehte stumm: Bitte, bitte, Vater, helfen Sie mir. Ich ertrage es hier nicht mehr. Ich muss hier raus.
Unbeholfen tröstend, tätschelte er die Hand seiner Tochter und rief: „Wir steigen aus. Wir bleiben hier, gehen zurück ins Schloss!“
Der kleine Dauphin flüchtete in seine Traumwelt, aber Marie Thérèse achtete seit jenem Tag besonders aufmerksam auf die Erwachsenen und spürte, dass etwas vor sich ging, dass ihre Eltern etwas planten. Verheißungsvolle Gefühle keimten in ihr auf, ähnlich wie in der Vorweihnachtszeit, aber ungleich stärker, hoffnungsvoller. Und wie vor Weihnachten, wich jeder ihren neugierig forschenden Fragen aus.
Dann – kaum war sie richtig eingeschlafen –, wurde sie eines abends um zehn geweckt und spürte schlaftrunken, wie ihr etwas übergestreift wurde. „Schnell, schnell, Madame Royal!“, trieb Madame de Tourzel sie zur Eile an. Hinter ihr wartete ungeduldig die Mutter und eilte mit ihnen durch einige Zimmerfluchten, über eine Treppe und endlich durch eine unbewachte Glastür auf den Fürstenhof.
Noch zu sehr vom Schlaf umfangen, erkannte Marie Thérèse in dem vermeintlichen Kutscher, der sie in dunkler Juninacht empfing, nicht Graf Axel von Fersen.
Erst halbwach in dem Fiaker, auf der Place du Petit-Carroussel, dem kleinen Karussellplatz, fiel ihr auf, dass sie unter einem Schultertuch aus Linon ein Kattunkleid trug, nur mit blauen Sträußchen verziert. Auch ihr Bruder steckte in einem Kleid. Was sollte das bedeuten?
Читать дальше