War sie in dieser Nacht überhaupt zur Ruhe gekommen? Oder erwachte Paris heute früher als sonst?
„Maman, hören Sie nur...“ Aufgeregt rannte Marcel voraus und bemerkte erstaunt: „Das kommt vom Palais des Tuileries.“ Auch ihm war der gestrige Aufruf zum Marsch nach Versailles nicht entgangen. „Der König – sie müssen ihn geholt haben. Wir hätten mitmachen sollen!“
„Still“, gebot Amélie und lauschte. Obwohl es durch das Rauschen der Seine überlagert war, sowie durch morgendliche Geräusche aus Häusern und auf Straßen, die zwischen ihnen und dem nördlichen Ufer lagen, vernahm nun auch sie leises Donnern, wie von zahllosen Hufen – dazu ein Rattern, Wiehern, vielstimmiges Rufen, Pfeifen und Trommeln.
„Bleib!“, rief die Mutter und eilte ihrem davon stürmenden Sohn nach, als er nicht gehorchte, ergriff ihn am Arm. „Hör zu, Marcel. Du versprichst mir jetzt, dass du dich da nicht reinmischst.“
Der Junge sah sie verständnislos an. „Aber warum denn, Maman?“
„Warum, warum? Ich will dich nicht auch noch verlieren.“ Marcel murrte. „Und ich will kein Feigling sein.“
Amélie blieb unnachgiebig. „Besser ein Feigling, als tot! Außerdem“, fügte sie nach kurzem Überlegen hinzu, „bist du noch lange kein Feigling, nur weil du dich nicht überstürzt in Gefahr begibst.“
Noch keinesfalls von ihren Argumenten überzeugt, sah Marcel seiner Mutter in die hellgrauen Augen. „Ich werde achtsam sein, Maman. Ich verspreche es Ihnen.“
Amélie schüttelte den Kopf. „Du kommst jetzt mit in die Werkstatt.“
Es wäre noch genug Zeit für einen Abstecher zum Stadtschloss, hätte Marcel einwenden können, ließ es aber – so entschlossen, wie seine Mutter geklungen hatte.
Kurz darauf erreichten sie Paris, rochen schon von weitem das typische Gemisch aus Unrat und Fäkalien, das sich in den Straßenrinnen sammelte. Wie gewöhnlich, stöberten Hunde, Katzen und Federvieh darin herum.
Amélie und Marcel passierten das Palais du Luxembourg und folgten der Rue Monsieur le Prince. Überall standen Leute oder reckten sich bis zum Herausfallen aus den Fenstern, riefen einander zu, liefen aus Wohnhäusern, Werkstätten und Geschäften. „Der König, sie haben den König!“
So oder ähnlich verkündeten es auch Zeitungsjungen und hielten vorbei eilenden Passanten die neueste Ausgabe vor die Nase. Andere verteilten Flugblätter mit Pamphleten. Amélies Blick blieb an einer Karikatur hängen, die Marie Antoinette mit einem Priester in ordinär-erotischer Pose zeigte. Angewidert wandte sie sich ab und rief nach Marcel, konnte ihn zwischen den vorbei eilenden Menschen nirgends entdecken.
Angesteckt von der allgemeinen Unruhe und zugleich besorgt um ihren Sohn, setzte die Mutter ihren geplanten Weg fort, durch ein Gewirr von Straßen und Gassen hin zur Rue du Four, wo Meister Dubois' Knopfwerkstatt lag. Weil immer wieder Leute ihren Weg kreuzten und in ihrer Aufregung nicht auf andere achteten, kam sie jedoch kaum voran.
Als sie die Werkstatt endlich erreichte, stieß Amélie auch hier auf Tumult. Die meisten der dreiundsechzig Arbeiterinnen tanzten jauchzend auf der Straße davor herum, versperrten Fuhrwerken den Weg und riefen durcheinander: „Nie mehr Not, nun gibt’s Brot! Brot! Brot! Wir haben den Bäcker, die Bäckerin und den Bäckergesellen!“
Ehe sie sich's versah, fühlte Amélie sich am Arm gepackt und sah in glühende Augen, umlodert von Grauhaar, das sonst sorgfältig hochgesteckt war, erkannte ihre Mitarbeiterin kaum. „Los, mach mit!“, forderte die sie auf und steckte ihr ein blauweißrotes Band an den braunen Leinenrock. „Du hast doch auch ein Kind an den Hunger verloren. Damit ist's jetzt vorbei!“
„Was... Julie...?“ Mehr brachte Amélie zunächst nicht über die Lippen, überrascht und voller Zweifel – gedanklich immer noch bei Marcel. Darauf konnte die überdrehte Julie aber keine Rücksicht nehmen, riss sie mit sich in den Strudel und wirbelte mit ihr herum.
Endlich rief auch Amélie: „Nie mehr Not, nun gibt’s Brot! Brot! Brot! Wir haben den Bäcker, die Bäckerin und den Bäckergesellen!“
Marcel bemerkte überhaupt nicht, dass er ungehorsam war. Wie hätte er auch, umringt von ausgelassen schreienden und tobenden Menschen? Gar nicht mehr dachte er an seine Mutter, rannte durch Straßen und Gassen, wie alle anderen ebenso und rief dieselben Parolen.
Vom Boulevard Saint-Germain, gelangte er auf die Rue Dauphine, die ihn direkt zum Pont Neuf führte, der ersten Brücke von Paris, worauf die Händler keine Geschäftshäuser und Buden errichten durften – von der aus man unter sich die Seine vorbei brausen und vor sich das Palais des Tuileries sah. Für La Samaritaine, die hydraulische Wasserpumpe mit dem Relief, das die Begegnug Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen zeigte, hatte Marcel jetzt keinen Blick übrig, selbst nicht für die Uhr darauf, mit dem mechanischen Glockenschläger. Früher hatte besonders der ihn fasziniert, jetzt nicht mehr. Jetzt war plötzlich alles ganz anders.
Als eine Horde älterer Jungen ihn fast überrannte und über die Brücke stürmte, schloss Marcel sich ihr an und war bald zwischen den langen Kerlen eingekeilt. „Komm raus, geile Metze?! Komm raus, wir besorgen's dir!“, brüllten sie lauthals, lachten und grölten.
Angesteckt von ihrem Eifer, brüllte Marcel mit, was er noch gar nicht verstand und quetschte sich mit unbändiger Willenskraft zwischen den Leibern hindurch.
Als er sich endlich nach vorn gearbeitet hatte, konnte er vom Palais des Tuileries und der Szenerie davor kaum etwas sehen, so sehr blendete ihn die aufsteigende Sonne. Aber er wusste – hinter diesen Mauern, die allmählich zerfielen, seit die königliche Familie in Versailles residierte, da war sie. Was empfand sie wohl jetzt, da statt Hochachtung und Verehrung Spott und Häme zu ihr herein drangen? Sollte sie ihm etwa leid tun? Nein, befahl Marcel seiner inneren Stimme, obwohl sie zaghaft um Fürbitte bat.
Nie vergaß er, welche Schmach sie ihm erteilt hatte – damals, auf dem Kinderball im Petit Trianon. Nie, so nahm er sich fest vor, würde er ihr verzeihen, dass sie ihn verschmähte, ihn einfach stehen ließ – diese hochnäsige kleine Dauphine, deren Eltern schuld daran waren, dass sein Schwesterchen verhungerte.
Die Sonne war aufgegangen an jenem sechsten Oktober 1789, als die Burschen um Marcel herum sich allmählich zerstreuten. Auch die übrige Menge vor dem Palais des Tuileries lichtete sich. Marcel hatte nun freie Sicht und versuchte, hinter den Fenstern etwas zu erkennen, ein Gesicht – vielleicht sogar das von Madame Royal?
Hartnäckig verharrte er und erhaschte endlich tatsächlich eine Bewegung. Aber die Dauphine konnte das nicht sein, es sei denn, sie trüge die Uniform eines Kammerdieners.
Trotzdem konnte sich Marcel nur schwer losreißen. Als es ihm endlich gelang, plagte ihn mit jedem weiteren Schritt in Richtung Rue du Four sein leerer Magen ein wenig mehr, dazu sein Gewissen. Wie konntest du dich so hinreißen lassen?, schalt es. Du bist doch kein kleiner Junge mehr. Was, wenn Meister Dubois dich jetzt rauswirft? Und die Mutter – in welche Lage hast du sie gebracht mit deiner Unbesonnenheit?
So in Gedanken versunken, registrierte Marcel den Burschen nicht, der plötzlich mit zwei Brotlaiben unter den Armen auf ihn zu schoss, spürte nur einen Stoß gegen seine linke Schulter. Unmittelbar darauf blickte er in das Gesicht eines Bäckers – erschrocken, als gelte ihm dessen Zorn. „Wo ist er, der Dieb?“ Der Bäcker rüttelte Marcel an den Schultern. „Wo?“
Der Junge drehte sich um und meinte, fern ein Paar spinnenlange Beine in einer Seitengasse verschwinden zu sehen. Zwar folgte der Bäcker seinem Blick, besaß aber offenbar schlechtere Augen. „Warum hast du ihn nicht aufgehalten?“, reagierte er seinen Zorn an dem Zwölfjährigen ab. „Zwei Laibe hat er mir geklaut, zwei Riesenlaibe!“
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