Stumm hefteten alle ihre Blicke auf Garnrollen oder Hände, während Dubois sich über die mangelnden Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts ausließ. Dann erreichte er Marcels Platz und stockte. „Was, noch nicht mehr? Von dir hätt' ich aber was anderes erwartet, Schandfleck meines Geschlechts!“
„Er ist doch erst zwölf“, wagte Amélie zaghaft einzuwenden, feuerte Dubois' Unmut damit aber erst richtig an.
„Erst zwölf? Was hab ich in dem Alter schon leisten müssen! Nichts, nichts, dafür zahl' ich nichts! Der blockiert ja den Platz für einen Besseren.“ Noch während er sprach, packte der Knopfmacher den Jungen am Arm und zerrte ihn von seinem Platz hoch, hin zur Tür. Aufgeregt eilte Amélie ihnen nach, wurde aber barsch von Dubois angefahren: „Willst du gleich mit verschwinden? Na los, draußen warten mindestens zehn Neue!“
„Ich möchte nur rasch meinem Sohn etwas geben“, erklärte Amélie mit gesenktem Blick und drückte Marcel ein Geldstück in die Hand. „Kauf einen Viertelpfünder. Nach Feierabend treffen wir uns draußen.“ Ihre Worte versiegten in Marcels Ohren, denn Dubois hatte ihn bereits durch die Tür geschoben.
Aufgewühlt lief der Junge die Rue du Four entlang und stieß immer wieder gegen Passanten, denn nun wurde ihm tatsächlich schwindlig. Das Geld in seiner Hand – es entglitt seinen
rutschigen Fingern und sprang klimpernd über das Pflaster. Er bückte sich, suchte. Wo lag es – da! Fast geriet seine Hand unter einen Absatz, als sie es aufsammelte. Marcel bekam das jedoch kaum mit, wollte sich wieder aufrichten. Dabei wurde ihm schwarz vor Augen. Er taumelte. „Pass doch auf!“ Nur gedämpft drang der Schrei in seinen surrenden Schädel. Dieses Geräusch dauerte zwar noch an, aber wenigstens lichtete sich nun allmählich das Schwarz.
Wie in Trance, ließ Marcel die Münze in eine Hosentasche gleiten und ging weiter. Wohin, wusste er nicht. Das war gerade völlig unwichtig, ebenso wie sein Hunger. Seltsam – den spürte er auf ein Mal gar nicht mehr. Alles, was er noch spürte, war Scham und zwar eine so unerträgliche, dass er instinktiv versuchte, diesem Gefühl davon zu laufen.
Nicht nur sich selbst hatte er bloß gestellt, sondern – was weit schlimmer war –, auch seine Mutter und das vor aller Augen.
Weiter lief der Junge, immer weiter und stolperte dabei dauernd über die eigenen Füße.
Er wusste nicht, wo er war, als es plötzlich nicht mehr weiter zu gehen schien. Vor ihm drängten sich Leute, hauptsächlich Frauen, mit Körben über den Armen. Marcel empfand nur ein Bedürfnis – vorbei und weiter vor sich hin laufen. Doch die Leute standen zu dicht. „Hör auf zu drängeln!“, keifte ihn eine Stimme an und zerriss damit den dämpfenden Schutzwall, den sein Unterbewusstsein um ihn gebildet hatte. Marcel geriet in Panik, wollte sich wieder einlullen und wich aus auf die Straße. Das taten aber auch etliche vor und hinter ihm. Außerdem war die Warteschlange ziemlich breit und ließ auf der Straße gerade noch genug Platz für den Verkehr. Von rechts keilten die Wartenden den Jungen ein. Von links streifte ihn plötzlich ein heißer, dampfender Pferdeleib. Der Kutscher fluchte und peitschte das Tier durch die Menge. Die versuchte auszuweichen, ihrerseits fluchend oder erschrocken aufschreiend.
Marcel wurde ringsum eingekeilt und fühlte abermals einen Schwindel-Anfall nahen. Wenigstens konnte er in dieser Zwangslage unmöglich fallen, aber als die Kutsche fort war, löste sich das Menschenknäuel um ihn. Die Knie anfangs wacklig, rang Marcel um sein Gleichgewicht, schälte sich aus der Menge und lief vorwärts, an der Warteschlange entlang, bis zu ihrem Kopf. Der steckte in einer Bäckerei.
Brot – ohne, dass Marcel darauf vorbereitet war, meldete sich sein Magen und verlangte vehement nach Brot. Die Wartenden glaubten, er wolle sich vordrängeln, als er stehen blieb und auf die Auslagen der Bäckerei starrte. „Nach hinten!“ „Ans Ende!“, gellte es durch Marcels Ohren. Sein noch immer getrübtes Bewusstsein erkannte nicht gleich, dass die Rufe ihm galten. Erst, als jemand ihn anstieß, schreckte er auf und schlich zurück, ans Ende der Schlange. Inzwischen war sie noch länger geworden.
Seit über einer Stunde stand Marcel schon auf demselben Fleck, als die Sonne sich ihrem Höchststand näherte. Unerbittlich prallte sie auf die Menschen herab, obwohl es bereits Oktober war.
Eine Kopfbedeckung... Marcels Blicke schweiften über das Pflaster. Wie oft hatte er dort alte Zeitungen herumliegen sehen, nur ausgerechnet jetzt nicht.
Die Leute lästerten. Ob denn ernsthaft jemand glaube, dass sich etwas zum Guten verändern werde, jetzt, da der „Bäcker“ wieder unter ihnen sei. „Im Gegenteil!“
Wer ein Brot erstanden hatte, verzog entweder sein Gesicht oder verlieh seiner Empörung Ausdruck. „Schon wieder teurer!“ Nicht mal für ein Dreiviertelpfund habe ihr Geld gereicht, wo sie doch sieben Mäuler zu stopfen habe, beklagte sich eine Hausfrau.
Marcel hörte, wie eine ältere Frau, unweit von ihm wartend, einer anderen von ihrem gestrigen Besuch beim Metzger erzählte. „Das hätten Sie sehen sollen, bloß Knochen und Sehnen. Nicht mal der Hund mag so was anrühren!“ Die andere pflichtete ihr bei. „War bei mir kürzlich genauso, aber die Weiber der Abgeordneten kriegen die feinsten Filetstücke, für kaum den halben Preis!“
„Sie zahlen nicht weniger dafür“, widersprach eine blutjunge Frau, deren Kleidung sie als Dienstmädchen eines Großbürgers auswies. „Aber sie haben halt genug Geld.“
„...und werden obendrein bevorzugt behandelt“, ergänzte die Ältere und beäugte die Junge argwöhnisch. Dass die bloß nicht versuchte, sich vorzudrängeln!
Sie warte, bis sie an die Reihe käme, schien das Dienstmädchen ihre Gedanken lesen zu können und wandte sich zu einer Schwangeren um. „Aber sie hier sollten wir vorlassen.“ Ein Murren ging durch die Menge, wenn auch niemand Einspruch erhob gegen dieses ungeschriebene Gesetz. Also bedankte sich die Schwangere und drückte ihrer Fürsprecherin im Vorbeigehen die Hand.
„Fleisch... Pah!“, nahm eine weitere Anstehende den Gesprächsfaden wieder auf. „Wir wissen gar nicht mehr, wie das schmeckt. Brot mit Zwiegeln drauf, seit Wochen gibt’s das tagein, tagaus!“
„Und wenn's dumm läuft, eben nur Zwiebeln!“, tönte es aus der Schlangenmitte, was Zustimmung aus sämtlichen Bereichen hervor rief. „Ist bei uns genauso!“ „Und bei den Nachbarn.“ Eine lachte bitter. „Man kann's riechen, bis auf die Gass'!“
„Was wir brauchen, sind feste Brotpreise!“, forderte eine Frau vor Marcel. „Weiß Gott!“, stimmte jemand hinter ihm zu.
Von nun an war dem Jungen, als würden ihm die Rufe um die Ohren geschlagen. „Feste Preise, das wollen die ja gar nicht!“ „Wer?“ „Na wer schon? Aristokraten, Händler, Kaufleute, auch Bäcker, halten's Mehl zurück!“ „Ja, halten's Mehl zurück, auch Bäcker!“ „Sagen, s'wär knapp, damit's teurer wird!“ „Haben sich doch alle gegen uns verschworen!“ „Wollen uns ausbluten lassen!“ „Ja genau, ausbluten!“ „Gefügig machen!“
Plötzlich verebbte das Geschrei. Alle horchten auf einen Disput, der sich ganz vorn entzündet hatte, an Lautstärke zunahm und wie ein Feuer durch die Warteschlange lief. „Betrug ist das, Betrug! Viel zu leicht für den Preis und miserable Qualität! Und überhaupt – ihr kauft Korn auf und macht mit den Müllern aus, dass sie es mit verschiedenen Sieben mahlen – fein für die Reichen und grob für uns! Aber kosten tut's uns trotzdem genauso viel!“
Der Bäcker widersprach. Vergebens – seine Worte versanken im allgemeinen Aufruhr.
Marcel wäre gern fortgelaufen, aber erstens konnte er nicht, war von der Menge eingekeilt. Zweitens hatte er nun schon zu lange auf sein heiß ersehntes Brot gewartet, um aufzugeben. Er wusste – vor den anderen Bäckereien sah es nicht besser aus.
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