Dorothee Lehmann-Kopp
Ein eigenes Leben wagen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Dorothee Lehmann-Kopp Ein eigenes Leben wagen Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
Kapitel 1- Julie
Kapitel 2 - Caroline
Kapitel 3 - Marie
Kapitel 4 - Julie
Kapitel 5 - Caroline
Kapitel 6 - Marie
Kapitel 7 - Julie
Kapitel 8 - Caroline
Kapitel 9 - Marie
Kapitel 10 - Julie
Kapitel 11- Caroline
Kapitel 12 - Marie
Kapitel 13 - Julie
Kapitel 14 - Caroline
Kapitel 15 - Marie
Kapitel 16 - Julie
Kapitel 17- Caroline
Kapitel 18 - Marie, Julie
Kapitel 19 - Caroline
Kapitel 20 - Marie
Kapitel 21- Julie
Kapitel 22- Caroline
Kapitel 23 - Marie
Kapitel 24 - Julie
Kapitel 25 - Caroline
Kapitel 26 - Marie
Kapitel 27 - Julie
Kapitel 28 - Caroline
Kapitel 29 - Marie
Kapitel 30 - Julie
Kapitel 31 - Caroline
Kapitel 32 - Marie
Kapitel 33 - Julie
Kapitel 34 - Caroline
Kapitel 35 - Marie
Kapitel 36 - Julie
Kapitel 37 - Caroline
Kapitel 38 - Marie
Kapitel 39 - Julie
Kapitel 40- Caroline
Kapitel 41- Marie
Kapitel 42 - Julie
Kapitel 43 - Caroline
Kapitel 44 - Marie
Kapitel 45 - Julie
Nachwort
Impressum neobooks
Prolog
Marie - Wildungen, April 1869
Kurz nach dem Osterfest 1869 fand Maries Abschlussfeier der Töchterschule statt; mit Bestnoten hatte sie diese absolviert und stolz ihr Reifezeugnis entgegen genommen. Zum festlichen Mittagsmahl im elterlichen Haus war auch ihr Großvater, der Regierungsrat Theodor Kleinschmit, aus Arolsen angereist. So saß die ganze Familie vergnügt um den Tisch; nur den kleinen Otto hatte die Kinderfrau in ihre Obhut genommen. Beim Dessert jedoch sorgte die sonst so zurückhaltende 17-Jährige für Aufruhr. Großvater Kleinschmit hatte einige launige Bemerkungen über ihre Zukunft und mögliche Verehrer gemacht, die ihre Mutter damit konterte, dass es noch nicht dränge mit einer Heirat, erstmal sei sie froh, wenn ihre älteste, nun fast erwachsene Tochter ihr zur Hand gehe und auch bei der Betreuung der Geschwister helfe. Marie legte den Dessertlöffel nieder. Sie wollte die schöne Stimmung nicht verderben, aber für das, was sie zu sagen hatte, war jeder Zeitpunkt ungünstig. Also blickte sie ihren Eltern in die Augen und erklärte in sanften Worten, dass sie zwar an der Erziehung von Kindern mitwirken wolle, jedoch anders, als die Mutter es sich vorstelle. „Ich möchte so sehr gern ein Lehrerinnenseminar besuchen; in Marburg gibt es eines mit exzellentem Ruf. Zwei Plätze sind dort noch frei, ich habe mich erkundigt“, sagte sie mit einer Festigkeit in der Stimme, die sie selbst wunderte.
Das Bild um den Tisch gefror; mucksmäuschenstill war es mit einem Schlag. Julie, die im Juni elf Jahre werden würde, stand der Mund offen, sogar die sechsjährige Caroline schien die Ungeheuerlichkeit dieses Ansinnens ihrer Schwester zu verstehen. An des Großvaters Stirn pochte eine Schläfe. Maries Vater, der Rechtsanwalt Rudolph Kleinschmit, räusperte sich. „Schließ den Mund, Kind“, sagte er zu Julie. Dann wandte er sich Marie zu. „Ich verstehe vollkommen, dass Du die Schule und Deine Freundinnen vermissen wirst. Aber“, er tupfte mit der Serviette den Mundwinkel ab, „diese Idee entspringt dem Augenblick. In zwei, drei Jahren wirst Du heiraten, und bis dahin hast Du ein schönes Leben hier.“ Marie schüttelte den Kopf und richtete sich noch ein wenig höher aus. „Nein, Vater, ich habe es gründlich überdacht. Für eine Laune des Augenblicks wäre ich nicht die Gefahr eingegangen, Euch allen einen Schrecken einzujagen oder Euch zu enttäuschen.“ Sie warf ihrer Mutter einen liebevollen Blick zu. „Es tut mir Leid, Maman, aber ich wünsche mir sehr, meinen eigenen Weg zu versuchen.“
Was sie ihren Eltern nicht ohne Weiteres sagen konnte, ohne es wie einen Angriff auf ihr Weltbild klingen zu lassen: Sie fand die Aussicht, den Alltag der nächsten Jahren mit den akzeptierten Beschäftigungen junger Damen wie Nadelarbeiten, Musizieren, Kanarienvogelfüttern und Kleiderproben zuzubringen, gelinde gesagt ermüdend. Die Höhere-Töchterschulen, die es erst seit 1840 gab, vermittelten eine zwar nur oberflächliche, aber breit angelegte Ausbildung. Da Rudolph zutiefst vom Wert humanistischer Bildung überzeugt war und, anders als viele männliche Zeitgenossen, keinen Grund sah, sie seinen Töchtern zu verweigern, ihnen sogar seine Bibliothek öffnete, hatte Marie über den Schulstoff hinaus ihre Kenntnisse in fast allen Bereichen - Mathematik, Geographie, Geschichte, Literatur und Naturwissenschaft - erweitern können. „Dem Reich der Freiheit werb ich Bürgerinnen“ hatte die große Louise Otto schon 1850 in ihrer „Frauen-Zeitung“ geschrieben. Zerknitterte Exemplare kursierten unter ihren Mitschülerinnen, und Marie hatten die Texte und das freie Gedankengut, der Aufbruch in eine neue Zeit mit neuen Regeln, wie ein Blitz getroffen. Als Lehrerin zu arbeiten, war vielleicht nur ein kleiner Schritt auf dem Weg, aber der einzige, der im Augenblick in ihrer Macht stand. Und sie beabsichtigte, ihn zu gehen. So sehr sie ihre Eltern und die kleinen Geschwister liebte; das Hauswesen kam gut ohne sie zurecht.
Bevor sie jedoch weitersprechen konnte, kehrte in den Regierungsrat Leben zurück. „Zum Donnerwetter, Kind, lass die Fisimatenten. Noch nie war eine Dame unserer Familie – berufstätig.“ Er spie das Wort aus. Elise, obwohl selbst erschreckt vom Begehr ihrer Tochter, sprang ihr bei. Sie war nicht abgeneigt, nachzugeben, denn Marie war stets folgsam gewesen und hatte nur höchst selten für sich um etwas gebeten. Und zum Heiraten wäre schließlich immer noch Zeit. „In unseren Familien nicht, Schwiegerpapa, das stimmt. Sie haben jedoch selbst für eine Dame gearbeitet – und Fürstin Emma hat ihre Regierungsgeschäfte vorzüglich versehen“, sagte sie spitzzüngiger, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Das Pochen der Ader verstärkte sich. „Ich muss doch sehr bitten. Die Fürstin von Waldeck und Pyrmont, die während ihrer Regentschaft den gesamten Staatsorganismus umgestaltet und erneuert hat, woran ich die Ehre hatte mitzuwirken, mit einer… einer Lehrerin zu vergleichen – das ist ridicule, lächerlich ist das!“ Der alte Herr schnaubte. „Rausgeworfenes Geld und vergeudete Zeit, inacceptable. Und dann heiratet sie, und alles war umsonst. Wenn nicht überhaupt ihre Chancen auf eine gute Partie perdu sind danach.“
„Aber Großvater, Sie selbst haben die verbesserte Bildung für Mädchen begrüßt“, schaltete sich nun wieder Marie ein. „Und die Mitglieder des Rates, die sich gegen die Töchterschulen aussprachen, ‚rückschrittliche Esel auf Abwegen‘ genannt.“ Sie zögerte und wandte sich an ihren Vater. „Du hast mir eine gute Ausbildung ermöglicht, wofür ich sehr dankbar bin. Aber ist es nicht sogar meine Aufgabe, daran mitzuwirken, diese Möglichkeiten auch anderen zu eröffnen? Bitte lasst es mich wenigstens probieren.“ Rudolph seufzte leicht. „Contenance und Courage, ja, die hast Du wirklich, Kind. Ich werde darüber nachdenken. Und nun lasst uns in Gottes Namen zu anderen Themen übergehen...“
Vier Wochen später verabschiedete sich Marie mit einer innigen Umarmung von ihrer Mutter und reiste nach Marburg, um ihre Ausbildung zur Lehrerin anzutreten. Die kleine Julie aber, zutiefst beeindruckt von der Szene am Mittagstisch, murmelte beim Einschlafen des Abends noch oft vor sich hin „Contenance und Courage, Contenance und Courage...“
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