„Oh mein Gott!“, entfuhr es ihr.
Der Schnee hatte ihn mitgerissen! Entsetzt starrte Sophia auf die weiße Wolke, die jetzt nicht mehr nach oben stieg, sondern am Fuß der Georgenspitze auseinanderquoll, wie Rauch aus einem Reagenzglas. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie aus ihrer Erstarrung erwachte. Ohne die Augen von dem schaurigen Schauspiel abwenden zu können, versuchte sie den Reißverschluss ihrer Jacke zu öffnen. Vergeblich! Ärgerlich riss sie sich die Handschuhe herunter, öffnete die Jacke und suchte in der Innentasche nach ihrem Handy. Mit zittrigen Fingern gab sie den PIN-Code ein.
„Mach schon!“, schrie Sophia ihr Telefon an und schüttelte es ärgerlich. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich einen vernünftigen Empfang hatte.
Zum Glück war die Frau in der Notrufzentrale nicht von der langsamen, begriffstutzigen Sorte. Nach kurzen, prägnanten Fragen nach dem Was? Wo? und Wann? legte sie mit der tröstlichen Versicherung, sofort den Rettungsdienst der Bergwacht zu verständigen, wieder auf. Sophia steckte ihr Handy ein. Der aufgewirbelte Schnee am Fuß der Steilwand hatte sich fast schon wieder gesetzt. Fieberhaft wanderte ihr Blick über dem Gelände hin und her. Nirgends eine Spur! Panik stieg in ihr hoch.
‚Was, wenn die Bergwacht zu lange braucht ehe sie kommt? Was, wenn es zu lange dauerte ehe sie ihn finden?‘
Sophia hob den Kopf. Ein entschlossener Zug lag um ihren Mund. Sie straffte die Schultern. Ohne weiter darüber nachzudenken stapfte sie los. Sie wusste, dass ein Stück weiter ein paar größere Steine aus dem Wasser des Baches herausragten. Über sie konnte man eventuell das andere Ufer erreichen. Als sie die Stelle gefunden hatte, zögerte sie keinen Augenblick. Sie machte fünf lange Schritte und schon stand sie auf der anderen Seite. Am Anfang war das Vorwärtskommen auch nicht schwieriger als auf dem befestigten Wanderweg. Aber je mehr sie sich dem Fuß der Georgenspitze näherte, desto anstrengender wurde es. Die herabgestürzten Schneemassen hatten die Pulverschneedecke soweit verfestigt, dass sie den Schnee nicht einfach wie trockenes Laub zur Seite schieben konnte. Bei jedem Schritt sank sie bis über die Knie ein und musste das Bein immer wieder mühsam herausziehen.
Nach kurzer Zeit blieb sie vollkommen außer Atem stehen. Gespannt sah sie sich um, ob nicht irgendeine Spur des Verunglückten zu sehen wäre. Ihre Augen blieben an einer dunklen Stelle hängen. Ungefähr einhundert Meter vor ihr, unmittelbar unterhalb der Steilwand. Sofort setzte sie sich wieder in Bewegung. Da sie aber in ihrer Aufregung vergessen hatte, dass sie bis über beiden Knien im Schnee steckte, fiel sie der Länge nach vornüber. Es war ein sehr anstrengendes Geschäft, sich aus der weißen Pracht zu befreien und sie war schweißgebadet ehe sie wieder aufrecht stand. Ihre Augen starr auf den dunklen Fleck im Schnee gerichtet, arbeitete sie sich weiter vor. Inzwischen sank sie schon fast bis an die Hüften ein. Mühsam musste sie vor jedem Schritt einen Teil des Schnees mit den Händen zur Seite räumen, damit sie überhaupt ihr Bein wieder ein Stück weiter nach vorn brachte.
Sie war gerade wieder dabei den Schnee zur Seite zu schieben, als ihre rechte Hand auf Widerstand stieß. Mit einer energischen Bewegung räumte sie das Hindernis zur Seite. Sie spürte einen heftigen Schmerz in ihrer Hand und zuckte mit einem leisen Aufschrei zurück. Quer über die ganze Handfläche zog sich ein Schnitt aus dem auch sofort das Blut in dicken Tropfen herausquoll.
„So ein Mist!“, schimpfte Sophia.
Sie kramte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch und presste es auf ihre Hand. Mühsam schob sie mit dem Ellbogen den Schnee zur Seite, um zu sehen, woran sie sich geschnitten hatte. Ein Ski! Anscheinend hatte sie mit ihrer Hand ausgerechnet die messerscharfe Stahlkante erwischt. Sie ballte die verletzte Hand um das Taschentuch zu einer Faust und wühlte mit der Linken im Schnee. Aber an dieser Stelle lag offensichtlich außer dem einen Ski nichts weiter. Also setzte sie ihren Weg in Richtung Felswand fort. Allerdings ging es jetzt noch langsamer, da sie nur noch eine Hand frei hatte, um sich eine Bahn zu graben.
Zehn Meter weiter fand sie den zweiten Ski. Diesmal grub sie ihn jedoch nicht aus, sondern trat mit dem Fuß darauf. Er steckte mindestens achtzig Zentimeter tief im Schnee. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu als sie daran dachte, dass vielleicht auch der unbekannte Skifahrer so tief unter dem Schnee begraben sein könnte. Nach einer ihr beinahe unendlich lange erscheinenden Zeitdauer erreichte sie den dunklen Fleck, der ihr die ganze Zeit als Anhaltspunkt gedient hatte. Mit der Hand tastete sie über das dunkelblaue Material, das sich so deutlich von der weißen Schneedecke abhob.
‚Es könnte eine Tasche oder eine Rucksack sein‘, ging es ihr durch den Kopf. Sie räumte den Schnee zur Seite um an das Ding heran zu kommen. Es war tatsächlich nur ein Rucksack. Enttäuscht wollte Sophia ihn beiseite schieben. Aber es ging nicht. Er saß fest! Ohne weiter an ihre verletzte Hand zu denken, begann sie wie eine Besessene zu graben. Ihr Herz schlug so laut, dass sie das Gefühl hatte, das Geräusch würde sogar das Keuchen ihres Atems übertönen. Tatsächlich! Unter dem Rucksack kam eine rote Skijacke zum Vorschein.
Kurze Zeit später konnte sie bereits dunkelblonde Haare erkennen. Sie tastete sehr behutsam am Kopf entlang um das Gesicht zu suchen. Da gab der Schnee auf der einen Seite neben dem Kopf nach und sackte nach unten. Offensichtlich war dort unter dem Gesicht eine kleine Höhlung im Schnee gewesen, die jetzt zusammengebrochen war. Vorsichtig schob Sophia ihre Hand unter den Kragen des Anoraks.
„Gott sei Dank!“, entfuhr es ihr, als sie unter ihren Fingerspitzen einen kräftigen Herzschlag spürte.
Sie kratzte den Schnee rund um den Kopf beiseite und versuchte ihn auch so vorsichtig wie möglich aus dem Gesicht zu entfernen. Auf der Wange, die zum Vorschein kam, war der dunkle Schatten eines Drei-Tage-Bartes zu sehen. Irgendwie war es Sophia von Anfang an klar gewesen, dass es sich um einen Mann handeln musste. Nur Männern konnte ein solcher Blödsinn einfallen, bei so gefährlichen Verhältnissen mit den Tourenskiern unterwegs zu sein.
Diese Seite des Kopfes schien unverletzt zu sein. Sie beugte sich nach vorn um das ganze Gesicht sehen zu können. Da bemerkte sie, dass der Schnee unter der anderen Wange nicht mehr weiß sondern rot war. Wieder stieg Panik in ihr hoch. Krampfhaft versuchte sie sich an all das zu erinnern, was sie in den Erste-Hilfe-Kursen, die sie jedes Jahr besuchen musste, immer wieder eingetrichtert bekommen hatte. Sie stieß die Luft hörbar aus und schluckte ein paar Mal, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Dann machte sie sich ans Werk.
Zuerst entfernte sie den Schnee auch rund um seine Schultern. So konnte sie sehen, ob der Kopf möglicherweise eine unnatürliche Stellung hatte. Dies war nicht der Fall. Als sie beim Wegschieben des Schnees an die rechte Schulter des Mannes stieß, spürte sie ein leichtes Zucken. Da war also etwas nicht in Ordnung. Unbeirrt und zielstrebig arbeitete sie weiter. Sie hatte ihre Panik überwunden und ihre Gedanken waren jetzt vollkommen klar. Stück für Stück grub sie ihn aus dem Schnee heraus. Sie musste mit bloßen Händen arbeiten. Ihre Handschuhe, die sie zum Telefonieren ausgezogen und in die Jackentasche gestopft hatte, waren anscheinend verloren gegangen, als sie sich durch den Schnee gekämpft hatte. Ihre Hände waren zwar bereits nach kurzer Zeit völlig gefühllos, aber dafür merkte sie auch nichts mehr von dem Schnitt in der Handfläche.
Als sie seine Beine freilegte, stieß sie wieder auf blutgetränkten Schnee. Am rechten Bein war die Skihose vom Knie abwärts zerrissen. Blut sickerte zwischen den Fetzen heraus und schmolz einen immer tiefer werdenden roten Krater in den weißen Schnee.
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