Ja, nun würde er die Kensington Road Richtung Hyde Park entlang schlendern, sich die Bilder ansehen, die auf beiden Seiten ausgestellt waren und sich dann eine öffentliche Telefonzelle suchen.
Wozu denn? Er kannte doch hier niemand. Was natürlich nicht stimmte.
Kensington Road fand er unverändert. Er sah sich die Bilder an, übersah geflissentlich einen Maler, der ihm anbot, ihn zu porträtieren und blieb dann an einem Stand stehen, an dem Becher mit Namen verkauft wurden. Jennifer, Judy, Joy las er. Dann ging er weiter zum Park, setzte sich auf eine Bank und sah den Schwänen zu.
Jogger, Pulks von Müßiggängern und einsame Spaziergänger schlenderten an ihm vorbei. Warum nur versuchte er, allen ins Gesicht zu sehen? Elsterhorst, du bist ein hoffnungsloser Fall, beschimpfte er sich innerlich selbst und wandte sich dann in Richtung Marble Arch, wo er einige gute Geschäfte vermutete.
Als er den Rückweg antrat, hatte sich sein Aussehen verändert. Er trug eine elegante Sporthose, ein modisches Hemd und einen Anorak. In seiner Pension fragte er nach dem Telefonbuch.
„Schwertfeger“? Davon konnte es doch nicht allzu viele geben. Beim dritten Mal hatte er Glück.
„Ja, bitte?“
Dass er ihre Stimme sofort erkannte, ärgerte ihn mehr, als dass er sich darüber freute.
„Judith? Hier ist Maurice. Ich bin hier! In London! Ich wollte dich fragen, ob ....“
„Maurice?“ Es klang weder überrascht noch erfreut.
„Bitte, leg nicht auf. Können wir uns treffen?“
Hätte er sich hören können, er hätte selbst nicht geglaubt, dass er es sei, der da redete, aufgeregt, unsicher, abgehackt. Er verachtete sich zutiefst, und noch inbrünstiger, als er spürte, wie sein Herz klopfte, als Judith sagte:
„Maurice? Ach wirklich? Du hast Glück. Ich habe ausnahmsweise morgen Abend nichts vor.“
„Wo? Judith, bist du noch da? Ich weiß nicht, ob ich morgen ....“
„Ja, ja. Ist schon gut Maurice. Also heute. 20:00 Uhr.“
Sie nannte ein kleines Lokal in Soho.
„Ich komme!“
Elsterhorst hörte noch, wie Judith lachte und dann auflegte. War sie etwa nicht allein?
Obwohl es noch zu früh war, machte er sich sofort auf den Weg. Warum auch nicht? Es gab doch viel zu sehen in Soho. Er schlenderte durch die Gassen, schaute sich ohne großes Interesse die zum Teil bizarren Auslagen an, und sah alle zehn Minuten auf die Uhr. Dabei widmete er allen vorübergehenden Frauen große Aufmerksamkeit. Es hätte ja immerhin sein können, dass sich auch Judith zu früh auf den Weg gemacht hatte.
Den Eingang zu dem verabredeten Lokal ließ er bei alledem nicht aus den Augen. Schließlich betrat er das Restaurant. Der Chinese bot ihm einen kleinen Tisch am Fenster an und brachte den Begrüßungstee. Ein Taxi hielt. Elsterhorst erhob sich halb von seinem Sitz, aber nur ein behäbiges Ehepaar schälte sich aus dem Wagen, so unverkennbar deutsch, dass er sich sofort auf sein „Spanisch“ besann. Wie oft er auf seine Armbanduhr schaute! Endlich rückten die Zeiger auf 20 Uhr. Aber noch immer ließ Judith auf sich warten. Dabei war sie doch sonst immer pünktlich? Elsterhorst rutsche auf seinem Stuhl nervös hin und her. 20:15 Uhr. Noch immer keine Judith. Hatte sie sich doch auf morgen eingerichtet? Gab es irgendwo einen Stau? War was mit der Underground? Es ging auf 20:30 Uhr. Der Kellner umkreiste ihn mehrmals mit der Speisekarte. Er winkte immer wieder ab.
Um 21:00 Uhr hatte sein Ärger den Höhepunkt erreicht. Sie hat mich versetzt, dachte er. Keine sehr angemessene Rache für das bisschen Unaufmerksamkeit, das er sich damals hatte zu Schulden kommen lassen. Hatte sie nicht gelacht, als sie dieser Verabredung zugestimmte?
Er ging zur Theke und bat um das Telefon. Judiths Nummer hatte er sich zum Glück gemerkt.
Mehrmals ließ er das Telefon bis zu einer gefühlten Unendlichkeit läuten. Nichts! Sie hebt nicht ab. Amüsiert sich wahrscheinlich mit einem Freund über den blöden Maurice.
Schließlich gab er dem Kellner ein Trinkgeld, hielt ein Taxi an und fuhr zurück in seine Pension.
Auf die Minute pünktlich stand er am nächsten Morgen vor dem Zimmer, das DI Budd im angegeben hatte.
Dsupt Brown SO1
stand auf dem Schild der Tür, zu der er nach eingehender Prüfung seines Dienstausweises von einem Constable geleitet worden war. Ein Detective Superintendent gehört zu den höheren Rängen des C I D und die SO1 befasst sich mit internationalen und organisierten Verbrechen.
Elsterhorst klopfte.
Als die Tür geöffnet wurde, sprangen mindestens fünf Beamte von ihren Sitzen und starrten ihn an. Dann redeten alle gleichzeitig:
„Kommissar Elsterhorst, wo um Gottes Willen haben Sie gesteckt? Wir erwarten Sie seit zwei Tagen! Unsere Leute standen bei Ankunft des angegebenen Zuges an der Victoria Station, um sie abzuholen. Wir konnten nur Ihren Koffer sicherstellen.“
„In dem gebuchten Hotelzimmer sind Sie auch nicht eingetroffen.“
Es klang vorwurfsvoll, fast entrüstet.
„Entschuldigen Sie“, sagte Elsterhorst, als er endlich zu Wort kam. „Ich habe mich genau an das gehalten, was Ihr DI Budd mir ausgerichtet hat.“
„Wer?“
„DI Budd, der mich im Krankenhaus abholte und nach London in eine Pension brachte. Er sagte, dass ich genau zu dieser Zeit und in diesem Zimmer erwartet würde.“
„Krankenhaus?“
„Ja, wissen Sie denn überhaupt nichts?“
„Offensichtlich nicht!“
„Detective Superintendent Brown!“ stellte sich einer der Anwesenden vor.
„Bitte lassen Sie mich mit Kommissar Elsterhorst allein sprechen.“
Dann saßen sie einander gegenüber.
„DI Budd hat Sie also von Dover nach London gefahren und Ihnen diesen Termin angegeben?“ eröffnete Brown das Gespräch.
„Genau wie ich es Ihnen sagte. Er brachte mich nach Kensington in eine Pension, die Phoenix heißt.“
„Was genau ist seit Ihrer Abreise mit Ihnen passiert?“
Elsterhorst gab einen kurzen Bericht, den Brown nicht kommentierte.
„Wieviel wissen Sie überhaupt über den Fall?“
„Offenbar nur das Nötigste. Priscilla Henderson, eine englische Archäologin, die sich hauptsächlich mit den Etruskern beschäftigt, wird vermisst. Auch ihr deutscher Ehemann ist verschwunden. Und nun vermutet man irgendeinen Zusammenhang und will sowohl in England wie in Deutschland recherchieren. Ein bisschen merkwürdig, finde ich.“
„Merkwürdiger als Sie glauben, Herr Elsterhorst. Inzwischen sind Hinweise eingegangen, die das Ganze fast als Scherz erscheinen lassen.“
„Eher wohl als die Vortäuschung einer Straftat,“ korrigierte ihn Elsterhorst. „Was für Hinweise?“
„Nun, da erhielten wir einen Brief, den Sie lesen sollten.“
Er reichte Elsterhorst ein Schriftstück.
Dr. phil. Karoline Küster D-97816 Lohr a. Main
Räuberstraße 13
To whom it may concern ....
Sehr geehrte Damen und Herren,
aus London habe ich einen rätselhaften Anruf bekommen. Der Anrufer hat sich nicht zu erkennen gegeben. Ich wurde gefragt, ob Mrs. Priscilla Henderson bei mir wäre oder ob ich wüsste, wo sie sich aufhält. Ihr Mann (?) Karl-Heinz Schmidt sei tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden.
Wie ich am Telefon bereits sagte, habe ich meine geliebte Freundin Pritchie leider seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Zwischen uns ist nur noch eine Postkarten-Freundschaft geblieben. Frau Prof. Dr. Priscilla Henderson reist ja sehr viel und schickte mir bis vor ca. einem Jahr ständig Ansichtskarten aus aller Welt.
Wir haben uns während des Studiums in Heidelberg kennen gelernt. Sie war Stipendiatin, eine beneidenswerte Überfliegerin, vielsprachig. Nach kurzer Zeit schon zogen wir zusammen in eine Wohnung. Es schien, als seien wir füreinander bestimmt. Leider zerbrach unsere Beziehung, als sie in London diesen unausstehlichen deutschen Export-Kaufmann Karl-Heinz Schmidt kennen lernte und dann - horribile dictu! - auch heiratete. Allerdings war es wohl eine reine Versorgungs-Ehe. Sie brauchte jemand, der ihr ihre Forschungsarbeiten, Experimente und die Reisen finanzierte.
Читать дальше