Eine Stewardess hielt ihm ein Tablett mit Gläsern hin. Er nahm einen Sherry und lehnte sich entspannt über die Brüstung, um den weißen Felsen entgegen zu sehen.
Was dann geschah, traf ihn so unerwartet wie ein Blitzschlag. Das Schiff tuckerte gemütlich dahin – eine Seltenheit. Selbst bei den heftigsten Stürmen hatte Elsterhorst nie auch nur den Anflug von Seekrankheit erlitten. Aber nun schien sich alles um ihn zu drehen. Übelkeit kam hoch. Gerade konnte er sich noch an der Reling festhalten, um zu verhindern, dass er auf dem Boden aufschlug.
Als er wieder zu sich kam, lag er bereits auf einer Tragbahre. Das Schiff hatte Dover erreicht, und man fuhr ihn mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus. Auf dem Weg dorthin verlor er erneut das Bewusstsein. Elsterhorst fand sich in einem Olivenhain wieder. Ihm kam die Landschaft bekannt vor. Er wusste genau, dass er in der Toskana war, konnte aber nicht ausmachen zu welcher Tageszeit. Als er durch die Bäume zum Himmel aufblicken wollte, sah er, dass sich immer mehr Oliven in kleine Skarabäen verwandelten, die herab fielen und ihn mit einer Schicht von Käfern bedeckten. Einige begannen zu wachsen und einer der Krieger schien ihn töten zu wollen. Dann waren es plötzlich Gesichter, viele menschliche Gesichter, von denen ihm einige bekannt vorkamen, er jedoch nicht wusste, wo er sie unterbringen sollte. Alle sahen ihn an; fragend, höhnisch, wissend oder mitfühlend. Ein Meer von Menschen? Nein, nun stand er wieder an der Reling eines Schiffes und schaute ins Wasser. Der Nil, die Donau, die Ostsee? Er wusste es nicht. Ein Mann kam auf ihn zu, dann näherte sich ihm eine Frau. Zu beiden wollte er etwas sagen, aber seine Stimme hatte keinen Ton. Und dann erblickte er seine Kinderfreundin Judith, deren Zuneigung er verschmäht und die wiederzusehen er weder erhofft noch gewünscht hatte. Sie war größer, als er sie in Erinnerung hatte, packte ihn mit einem geübten Griff und warf ihn ins Wasser. Er fiel und fiel, es wurde dunkel um ihn und dann fühlte er, dass er auf etwas Weichem aufschlug. Das ist der Grund des Meeres dachte er.
Als er die Augen aufschlug, fand er sich wieder in einem Krankenhausbett.
„Na, da sind wir ja wieder!“, sagte ein Mann im weißen Kittel, mit eher belustigtem als besorgtem Gesichtsausdruck.
Er zog gekonnt eine Infusionsnadel aus Elsterhorsts Arm und drückte eine kleine Mullrolle auf den Einstich.
„Fest drauf drücken“, sagte er noch und „Sie können aufstehen, Herr Kommissar.“
Der Arzt nickte ihm zu und verließ das Zimmer.
Elsterhorst bemerkte mit Erleichterung, dass man ihm nur die Jacke ausgezogen hatte und er sonst vollständig bekleidet war. Jacke und Mantel hingen ordentlich über einem Stuhl. Sein Aktenkoffer stand am Fußende des Bettes, wo er ihn mit den Füßen erreichen konnte.
Er war erstaunt, dass es ihm mühelos gelang aufzustehen.
Er zog die Jacke an und fasste in die Tasche. Die Dose mit dem Stein war weg. Wahrscheinlich war sie heraus gefallen, als man ihn ins Krankenhaus brachte. Schade eigentlich. Dann machte er ein paar Schritte, ging zur Tür, die sich im selben Moment nach kurzem Klopfen öffnete.
„Inspector Budd, George Budd“, stellte sich der kräftige, alerte Mann vor.
„Wie geht es Ihnen, Herr Kommissar?“ Sein Deutsch war fast akzentfrei.
„Danke, Mr. Budd, aber was ist eigentlich passiert? Ich weiß nur noch, dass ich seekrank wurde. Das habe ich noch nie erlebt.“
„Sie waren nicht seekrank, Herr Kommissar. Jemand hat Ihnen K.O Topfen in Ihren Drink getan. Sie haben keinen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?“
„Nicht den geringsten.“
„Hier in der Ambulanz haben die Leute natürlich ihren Pass kontrolliert, um Ihre Identität festzustellen. Dabei fanden Sie auch ein Schreiben des CID. Wir wurden sofort verständigt. Ich soll Sie nach London bringen.“
„Wird man den Vorfall dort klären?“
„Ich nehme es an. Aber meine Order lautet nur, dass ich Sie hier abholen und in Ihr Quartier nach London bringen soll. Dort erwarten Sie die zuständigen Leute.“
Elsterhorst nickte. Er nahm Mantel und Aktenkoffer und folgte George Budd. Er war froh, dass ihm die Zugfahrt und die Ankunft in Victoria Station erspart blieben. Budd brachte ihn zu seinem Auto. Fast schweigend legten sie die ganze Strecke zurück.
Die Pension, vor deren Tür Budd ihn absetzte, war eine von vielen in den ruhigeren Seitenstraßen von Kensington. Er liebte diesen Teil Londons und alles kam ihm bekannt vor. Budd verabschiedete sich, dann betrat Elsterhorst den kleinen Vorraum. In diesen Pensionen war alles klein. Auch die Zimmer. Man könnte denken, auf einem Schiff zu sein, so schmal waren die Gänge. Im zweiten Stock öffnete die junge Frau, die ihn begrüßt hatte, eine Tür zu so einem Raum, der einer Kabine glich. Ein schmales Bett, eine Art Schreibtisch, der fast ganz von der Teemaschine eingenommen wurde, und eine Duschnische, die so eng war, dass er sich fragte, wie Leute, die nicht so schlank waren wie er, damit zurecht kamen, ohne dauernd anzustoßen. Es gab weder Fernseher noch Telefon.
Elsterhorst fragte sich, was wohl aus seinem Koffer geworden war, der ja auf dem geplanten Weg nach London Victoria Station transportiert worden war, wo er ihn hätte in Empfang nehmen sollen. Er griff in seine Jackentasche und stellte fest, dass auch sein Handy verschwunden war.
Detective Inspector (DI) Budd hatte ihm mitgeteilt, dass er erst am nächsten Morgen beim CID erwartet würde. Eigenartig, dass man ihn zwei Tage früher hatte anreisen lassen. Da er nichts auszupacken hatte und auch niemanden erwartete, machte sich Elsterhorst auf den Weg, um irgendwo etwas zu essen und die Straßen und Orte wieder zu sehen, die er von früheren Reisen so gut kannte. Elsterhorst war nie ein geselliger Mensch. Dennoch hatte er jetzt das Bedürfnis, mit irgendjemandem über seine Erlebnisse zu sprechen.
Nein, nicht mit irgendjemandem! Warum hörte er nicht auf, sich etwas vorzumachen? Es war doch Judith, an die er dachte. Und sie war in London. Was, wenn sie jetzt zufällig hier vorbei käme, ihn sähe und mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuliefe, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte, wenn er sie als ihr Beschützer zur Schule gebracht hatte, obwohl er nur wenig älter war? Ja, er hatte den Kontakt zu ihr abgebrochen, als sie nach England ging, ohne sich zu verabschieden. Doch dann hatte sie ihn plötzlich in seiner Münchner Wohnung geradezu überfallen, als er mitten in dem Fall steckte, der auch in der internationalen Presse für Aufsehen gesorgt hatte: „Spurlos“ - Der Fall der vier spurlos verschwundenen Witwen. (Ebenfalls als eBook erhältlich.)
Judith war selbst in die Sache verwickelt gewesen, aber sie war an seiner Seite geblieben bis zum bitteren Ende. Und dann war sie abermals wortlos abgereist. Einfach so. Und wer war schuld? Er, Elsterhorst, der sich benommen hatte wie ein ungezogener Schuljunge. Er verscheuchte die Gedanken an sie. Morgen würde er vielleicht die Gelegenheit nutzen, über alles mit ihr zu reden. Aber was in aller Welt sollte er mit Judith anfangen?
Er fand ein kleines italienisches Restaurant, das ganz in der Nähe seiner Pension lag. Besonders attraktiv sah er nicht aus in der Kleidung, die er seit seiner Abreise in München trug. Er würde sich einige Sachen kaufen müssen, für den Fall ....
Italienische Restaurants sind doch überall gleich, dachte er, als er an einem freien Tisch Platz nahm. Kein Wunder also, dass er sich sogleich wieder daran erinnerte, wie er mit Judith „beim Italiener“ saß und sie gemeinsam zu Abend aßen. Jetzt fühlte er sich völlig allein. Er verzehrte seine Pizza, trank dazu ein deutsches Bier, das auf der Karte stand. Judith hatte seinerzeit Rotwein getrunken. Judith, immer wieder Judith! Verstockt verließ er das Lokal unnötig schnell und verweigerte sogar den Espresso, den der Padrone ihm anbot.
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