Auch Velmond war inzwischen aufgestanden. Er kniete hinter der Bank; dort, wo die Tote gelegen haben musste und wo sich sogar noch einige vertrocknete Reste der Rose fanden, die der Wind bisher nicht verweht hatte.
„Wer bringt sich hier um?“ fragte er halblaut.
„Und schleppt deshalb zwei Flaschen Sekt oder Champagner mit nach oben?“ Uta Möbius hatte inzwischen in waghalsiger Kletterei die leere Heidsiek-Flasche geborgen und ebenfalls in einer großen Klarsichthülle versorgt.
Hatte hier ein Terborg-Gelage stattgefunden? Ein Terborg-Fanclub-Gelage?
E i n e Frau - wohl mitnichten; denn schon eine Flasche allein zu leeren .... na ja, es kommt natürlich darauf an, wie lange man sich Zeit lässt.
Velmond hatte stets einen starken Magneten dabei, den er gern über Gräser (oder auch Teppichböden) gleiten ließ - eine äußerst primitive Metallsuch-Methode. Aber einiges kam damit doch zutage, verlorene Geldstücke, Flaschenkapseln, Schlüssel. Hier hingen auf einmal zwei Haarspangen dran. Und zwei aufgebogene Kettenglieder von einer Halskette.
Schweigend suchten sie den ganzen Platz ab, holten mit Stöcken Papier- und Obstreste aus den Höhlungen unter Felstrümmern, die als Ersatz für Abfallkörbe herhalten mussten. Warum warf jemand ein paar Handschuhe weg? Kekspackungen, leere Plastikflaschen, Papiertaschentücher, Bonbonpapiere. Wertvoll für die Ermittlungen? Wer weiß?
Bald mussten sie schon wieder an den Abstieg denken, sich schweren, aber auch leichten Herzens von der Rosenbank trennen, die für sie auf alle Zeit mit einer Toten verbunden sein würde - ebenso wie für den Gunter Terborg, der wohl nie mehr hierhin aufsteigen würde.
Gemeinsam nahmen sich Velmond und Möbius dann noch das Einzelzimmer der Uhlen vor. Die Bozener Kollegen waren natürlich ebenfalls tätig gewesen. Sollte von denen nichts Verdächtiges beschlagnahmt worden war, dann sah hier nichts danach aus, als ob jemand zu seiner letzten Stunde aufgebrochen wäre. Dass es keinen Abschiedsbrief gegeben habe, das wussten die beiden Münchner ja schon. Diese Thalida war wohl definitiv nicht dabei; denn Josefine hätte es ja ausgeplaudert. Dann hätten die beiden sich in einem Doppelzimmer eingemietet. Viel gab es nicht zu finden. Einen Reiseführer „Dolomiten“ in der Nachttisch-Schublade - von einem „Nordlicht“, das die Weite des Marschlandes und des Meeres liebte.
Uta Möbius fand Haarspangen im sogenannten Kulturbeutel; von derselben Art, wie Velmond sie oben am Berg mit seinem Magneten eingesammelt hatte.
Alsbald mussten sie sich trennen. Uta Möbius steuerte den großen AUDI aus der Tiefgarage. Den gründlich zu durchsuchen müsste Aufgabe der Münchner Spuri sein. Immerhin hatte Velmond noch schnell Klebestreifen über die Polster gleiten lassen und jede Menge Haare eingefangen. Es könnte ja sein, dass Corinna Uhlen ihre Mörderin schon mitgebracht hatte. Aber wen? Thalida? Iris? Luisa? Terborg am Ende? Velmond wollte das alles noch nicht zuende denken. Wie sieht ein Kofferraum aus, wenn man irgendwo hinfährt, um sich umzubringen? Sicher enthält er nicht vier Packungen mit je 6 Flaschen Magdalener! Dorthin - sagte sich Velmond - müsste er morgen auch noch zwecks Spurensicherung hinfahren und einen kleinen Vorrat dieses kernigen Rotweins mit nach Hause nehmen.
Aufregendes gibt es nicht mehr zu berichten. Der Besuch bei den Bozener Kollegen verlief freundlich, kompetent, emotionslos, was Velmond von sich nie behaupten konnte. Ob mit dem Opfer oder mit dem Täter - stets versuchte er, sich in sie „hineinzuleben“. Er bat die Bozener, die Meldezettel auch aus den anderen Hotels und Pensionen in Kastelruth und Seis am Schlern der letzten 14 Tage auf Gäste aus Deutschland hin auszuwerten und ihm nach Möglichkeit eine Liste zu schicken.
Mit 12 Flaschen Magdalener und 12 Flaschen Terlaner trat Velmond am nächsten Tag die Heimfahrt an. Als er noch einmal von einer der Serpentinen seinen Blick dorthin lenkte, wo er die Rosenbank vermutete, da haute er aufs Steuerrad und fluchte „Sapperment! Dass wir darauf nicht gekommen sind! Die Uhlen hätte ja da oben mit jemandem zusammengetroffen sein können, der von der anderen Seite auf- und wieder abgestiegen war. Zu spät gewispert!“
In München angekommen, konnte ihm Uta Möbius mit einer wichtigen Entdeckung vor den Augen herum wedeln.
„Schauen Sie mal, was ich gefunden und natürlich auch angehört habe! Diese CD hatte die Uhlen in ihrem Autoradio. Und wer ist drauf: Terborg! Terborg und seine virtuelle Wanderung zu seinem Lieblingsplatz.
W a a h n sinn - diese Stimme, diese Stimmung, diese Musik, das Adagio von Barber. Beinahe wäre ich auf einen liegengebliebenen LKW aufgefahren, so hat der mich in Alpha gelullt. Mann, so ähnlich muss der Rattenfänger von Hameln auf die Ratten gewirkt haben wie der Terborg auf die Weiber - und auf mich! Ich geb’s ja zu.“
In der Mittagspause legten sie die CD in einen Recorder.
Leise, pianissimo beginnt das „Adagio for Strings“ op. 11 von Samuel Barber. In diese sanfte, allmählich anschwellende, von Streichern getragene Melodie fügt sich die Stimme von Gunter Terborg ein. Nein, er nennt sich nicht beim Namen.
„ Immer, wenn ich diese Musik höre, dann entsteht für mich eine Fülle von beglückenden Bildern. Eine Landschaft öffnet sich von unglaublicher Harmonie und Schönheit. Ich gehe einen Weg. Ich gehe meinen Weg, den Weg meines Lebens. Ein sanfter Wind weht und fächert mir den erfrischenden Duft von Wiesenblumen zu. Rechts und links von mir öffnen sich Weiden bis zu den bewaldeten Hängen. Über mir spielen übermütige Schwalben. Sie steigen hinauf in die Bläue des Himmels, um sinnentaumelnd, zwitschernd wieder hinab zu tauchen, fast bis in die Kronen der mit weißen Blüten üppig geschmückten Obstbäume, die meinen Weg begleiten. Hörst du das Summen der Bienen? Siehst du die gelben und bunten Falter, die sich dem Spiel des Windes hingeben? Links drüben, ja, jetzt erst vernehme ich es, in dieser wunderbaren Melodie dieses Tages - das Glucksen, das Rauschen, das Murmeln des Baches, der mich ein Stück weit begleiten wird.
Schweigen. Und nur die auf und abschwellende Musik von Barber.
Ich höre meine Schritte. Irgendwo weiden Kühe. Hörst du die emsigen Glocken? Jetzt, ja, ganz deutlich - ein Kuckuck. Leicht steigt mein Weg bergan. Ein Gatter öffnet sich mit rostigem Quietschen. Die Bäume rücken jetzt näher heran. Kleine Bächlein queren den Weg. Schwerer wird der Duft üppiger Kräuter. Ich verhalte. Will nichts an mir vorüberstreichen lassen, keinen Laut, keinen summenden Käfer, kein Rascheln der Schlange, die meinen Weg kreuzt. Alles formt und fügt sich zu dieser wunderbaren Melodie. Hörst du sie auch?
Schweigen. Und wieder anschwellend das Adagio.
Ich erreiche den Wald. Sonnenstrahlen brechen durch die schwarzen Fächer der Fichten wie durch die hohen Fenster einer Kathedrale. Meine Schritte werden leiser. Ich schreite auf einem Teppich von Moos und Fichtennadeln.
Jetzt geht es steiler bergan. Schmal und schmäler wird der Pfad. Ich lasse die hohen Bäume zurück. Jetzt heißt es, Schritt vor Schritt zu setzen. Mühsamer geht es, über Stock und Stein. Noch ist das Ziel nicht in Sicht. Nur die graue Felswand, die heute im Glanz der Sonne viel freundlicher auf mich wirkt. Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Ich verhalte, folge mit meinen Augen dem majestätischen Flug eines Bussards.
Barber’s Adagio
Jetzt ist es bald geschafft. Es sind nur noch ein paar Serpentinen. Der Weg windet sich wie in kleinen Schluchten. Links und rechts die Pracht der Alpenrosen. Kleine Krüppelkiefern dazwischen. Das ersehnte Ziel im Blick scheint meine Schritte zu beflügeln. Ich eile voller Ungeduld. Nun, nun endlich bin ich oben! Ich bin oben! Der Blick weitet sich über Bergspitzen und ein weites, tiefes Tal. Eine Harmonie von Gottes Schöpfung, saftige grüne Matten bei den Almhütten, in der Ferne das gleißende Weiß der Gletscher, die Bläue des Himmels, das schwirrende Gekrächze der Dohlen, die mich umflattern, der harzige Duft aus den dichten, vor dem Wind geduckten Fichten rechts neben mir, eng zusammengeschart, sich gegenseitig Schutz gewährend. Links der Berg felsig ansteigend. Hinter mir die Pracht des in sonnigem Ocker grüßenden Sella-Massivs.
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