Die Dämmerung hatte eingesetzt. Ringsum gingen in den Häusern die Lichter an. Velmond löffelte aus seiner Tasse den teegetränkten Kandiszucker und rüstete sich zum Gehen. Er ließ noch einmal seine Blicke schweifen. Auf einem kleinen Tischchen erspähte er eine Blumenvase mit einer getrockneten Bacchara-Rose.
„Herr Terborg, vermutlich muss ich Sie doch nochmal ins Präsidium bestellen. Vielen Dank für Ihre Offenheit, für den guten Tee und für die Teilnehmerliste. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten!“
Kommissar Velmond hört es wispern
Das Gespräch mit Gunter Terborg hatte seine Neugier angestachelt. Velmond beschloss, irgendwann auch mal zur Rosenbank zu pilgern. Irgendwann, wenn die Jahreszeit ein wenig einladender wäre. Aber unverhofft kommt oft.
Die Kollegen aus Bozen erbaten dringend die Mithilfe von den Münchner Ermittlern in Kastelruth und vor Ort. Bei den Pathologen mehrten sich die Zweifel an der Selbsttötung. Zwar habe der Mageninhalt zweifellos eine Überdosis an Barbituraten ergeben, in Kombination mit Alkohol wohl auch zum Tode führend, aber es gab auch Kratzspuren am Hals und Hautreste unter den Fingernägeln, die man sich so nicht erklären könne. Keinesfalls handle es sich um Abschürfungen aufgrund von Stürzen. Zudem müsste dringend das Hotelzimmer von Frau Uhlen freigegeben werden. Also müsse jemand ihre Habseligkeiten abholen. Zudem müsse ja auch ihr PKW nach Deutschland rückgeführt werden.
So saßen alsbald der Kommissar und seine Assistentin Uta Möbius in Velmonds Peugeot und brausten in aller Herrgottsfrühe, noch vor Anbruch der Dämmerung, in Richtung Brennerpass und weiter über Sterzing und Brixen, wo man eine kurze Kaffeepause einlegte, nach Kastelruth. Velmond ließ die Möbius fahren. Er genoss die Zweisamkeit wie ein unverdientes Glück. Sie waren nun mal ein gutes Team, und jeder wusste, wie mit den Gefühlen und der Nähe des anderen umzugehen war - im Dienstverhältnis und mit guten 30 Jahren Altersunterschied.
Je südlicher sie kamen, um so freundlicher wurde das Wetter. Föhn hatte eingesetzt. Die späte Sonne ließ die Berghänge in allen Herbstfarben leuchten. Wenn es zeitlich ausginge, könnten sie vielleicht, vielleicht sogar gemeinsam zur Rosenbank aufsteigen, bevor die Kriminal-Assistentin dann allein mit dem Wagen von Frau Uhlen wieder zurück fahren müsste. Er - Velmond - brauchte sicher noch einen oder zwei Tage länger und mietete sich gleich im Hotel „Enzian“ ein.
Mit der Begründung, man müsse das Tageslicht ausnutzen, um geschwind zum Fundort der Toten aufzusteigen, warfen sich beide gleich in ihre Bergwander-Kluft, schnallten ihre Rucksäcke um und wollten starten, als die Hotelchefin einige Zweifel anmeldete, ob sie wohl so ohne Ortskenntnis den richtigen Weg finden würden. Zufällig meldete sich gerade die Kellnerin Josefine zu ihrem freien Tag ab, als sie vom Vorhaben der beiden Ermittler hörte.
„Wenn es Sie nicht stört, zeige ich Ihnen den Weg bis zu einer Stelle, wo Sie den Aufstieg nicht mehr verfehlen können!“
Na ja, mit zwei hübschen Frauen zu wandern, war ja auch nicht von der Hand zu weisen, dachte sich Velmond. Es bliebe ja noch genug Zeit für die Gemeinsamkeit mit der Uta.
Kaum hatten sie die letzten Häuser hinter sich gelassen, erwies es sich, dass die junge Kellnerin ihre Dienste nicht ohne Hintergedanken angeboten hatte.
„Wissen Sie, der Herr Terborg, der ist ja Stammgast bei uns. Immer allein. Er sucht die Einsamkeit, sagt er immer, weil er in seinem Beruf mit so vielen Menschen zusammen sein muss. ‚Und jeder Mensch ist ja’, so hatte er mir mal gesagt, ‚jeder Mensch ist ein Schicksal, wenn man sich so wie ich auf ihn einlässt!’ Und dann müsse er einfach mal diese Schicksale abschütteln. Das gehe am besten in der freien Natur! Aber seit der mit dieser Frau Uhlen bei uns aufgetaucht war, wirkte er wie verwandelt. Verändert - irgendwie. Wie Verliebte sind sie jedenfalls nicht miteinander umgegangen. Aber was dann geschah, das wissen Sie wahrscheinlich noch gar nicht. Kurz nach der Abreise war die Uhlen schon wieder da, und zwar in Begleitung einer Frau Pernice. Viel jünger und etwas schnippisch. Na ja, eigentlich darf ich sowas nicht ausplaudern. Aber die beiden hatten was miteinander. Und dann kamen immer mehr Damen, die offenbar alle irgendwie mit Herrn Terborg zu tun hatten. Wenn ich ihn nicht schon so oft bedient hätte, und da lernt man schon Menschen kennen, hätte ich gedacht, hoppla, hat der einen Weiber-Fanclub! Und alle wollten zu dieser ominösen Bank. Na ja, das ist schon schön da oben. Aber schöne Plätze haben wir hier überall!“
„Können Sie sich an Namen erinnern?“
„Ja, da kam eine Frau Springer, und dann eine ganz feine Dame, wahnsinnig gut gekleidet und sehr, sehr nett. Das war die Frau Schweizer, mit einem ganz tollen Vornamen: Damaris. Kriegt man natürlich im Restaurant normalerweise nicht mit. Aber unsere Chefin führt einzelne Gäste gern zu einem Tisch mit anderen, wenn sie es wünschen. Dann stellt sie die Gäste mit Namen vor.
Aber ich fand das schon ein bisschen übertrieben, dass die Frau Uhlen jetzt schon wieder da war. Und wieder zu dieser Bank da oben. Da hätte ich ihr schon noch andere Aussichtspunkte nennen wollen. Was sie bloß da oben gesucht hat? Besondere Steine? Sie hatte ja immer so einen Steinhammer bei sich. Wofür? Bergkristall gibt es hier nicht!“
So wichtig diese Informationen für Velmond und Möbius auch waren, sie waren froh, als die geschwätzige Josefine sie dann allein weiter wandern ließ. Sie müsse ja an ihrem freien Tag vieles erledigen. Und der ‚Einstieg zum Aufstieg’ sei nun nicht mehr zu verfehlen.
Ja, die letzten hundert Höhenmeter hatten es in sich. Velmond spürte, dass er nicht mehr der Jüngste war und leider ganz und gar aus der Übung. Aber er wollte gegenüber der Möbius keine Schwäche zeigen, die wie eine Gazelle über die steinigen Schwellen und Wurzeln hüpfte. Nun hatte auch die Herbstsonne ihre Kraft entfaltet. Sie kamen tüchtig ins Schwitzen, ehe endlich, endlich oben der Gebirgssattel in Sicht kam.
Ja, das war natürlich ein phantastischer Blick an diesem Föhntag! Nichts an der Schilderung Terborgs war übertrieben. Nein, es war alles noch viel, viel schöner, ergreifender. Als sie vor der Rosenbank standen, umarmten sich die beiden Wanderer aus vollem Herzen. Dann gönnten sie sich ein paar Minuten Rast – nicht ohne Zögern – sogar auf dem ausgewitterten Brett, ehe sie mit der Arbeit begannen.
Die Arbeit? Nun - zunächst das absolute Schweigen. Stille, Hören, bis alles ringsum zu wispern beginnt. Der Wind in den strohigen Gräsern, das Rauschen, das von der Felswand wie ein imaginärer seidiger Wasserfall auf sie herabrieselte. Unten im Tal das rhythmische Scheppern eines Eisenbahnzuges, der über eine Brücke fuhr. Das Bellen eines Hundes. Geröll, das ins Rutschen kam, weil vielleicht doch ein paar Gämsen oder Rehe irgendwo hinüber gewechselt waren. Die Schwingen von Dohlen, die sich bald um die Bank herum versammelten, in der Erwartung, dass ihnen Brocken zugeworfen würden. Schwirrend umflatterten sie die Meditierenden, sobald sie sich zu regen begannen.
Uta Möbius war aufgestanden und zur Felswand geschlichen. Sie schaute hinauf. Es gab dort einen kleinen Vorsprung, den man mit etwas Mühe erklimmen konnte. Zugedeckt mit einer Matte erfrorenen Grases. Und sie musste feststellen, dass sie nicht die Erste war, die von dieser höheren Warte den schönen Ausblick genoss. Leider - oder für die Kriminalistin eher förderlich? - waren dort einige Hinterlassenschaften verblieben, die Frau Möbius - man kann ja nie wissen - in kleine Plastiktütchen verschwinden ließ. Und, siehe da, etwas tiefer, aber sehr schwer zu erreichen, lag in einem Felsspalt eine Sekt- oder Champagnerflasche. Die war der Spurensicherung bisher entgangen.
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