Es wird Abend und ich habe mich, bei inzwischen vollem Haus, zurückgezogen. Es wird viel französisch gesprochen und ich widme mich eigenen Gedanken. O Gott, 10 Leute in einem nach Hund stinkendem Schlafsaal. Mir ekelt. Ich fühle mich extrem unwohl beim Gedanken an die bevorstehende Nacht.
Hätte ich gekonnt, wäre ich davongelaufen. Aber wohin? Nach St. Jean zurück? Niemals. Bis nach Roncesvalles, der nächsten Station am Weg? Im Dunklen ein Selbstmordkommando. Ich muss und werde es durchstehen.
Um mich abzulenken beschließe ich duschen zu gehen. Geschwitzt habe ich heute ja genug. Mein fußpilzhemmender Vorsatz nur mit Crocs in die Duschtassen zu steigen beginnt hier. Als alter Hygienefreak möchte ich kurz erwähnen, dass ich eine Flasche Alkohol mit einem Pumpkopf dabeihabe. Und eigenes Klopapier.
Das Licht ist bereits gelöscht und ich hab mich inzwischen in einen speziellen „ich schaff das schon“ Modus begeben. Mein Gefühl ist am ehesten mit dem in einer Achterbahn zu beschreiben. Beim hinaufgezogen werden kurz vor erreichen des höchsten Punktes.
Die fürchterliche Matratze und den fürchterlichen Polster mit ihren lächerlich dünnen Einmal-Vliesen als Leintuch und Bezug im Kopf, geht unten die Türe auf. Herein kommt ein junger Mann aus Orisson, der zu später Stunde hereinschneit um zu fragen wer morgen Frühstück will. Scheint der Besitzer oder ein Kellner zu sein. Also Licht wieder aufgedreht durch einen Pilgerkollegen und alle zusammen reissen noch ein paar gemeinsame Scherzchen. Komisch. Irgendwie kommt mir unser später Gast ein wenig angetrunken vor. Aber jetzt „Gute Nacht“. Oder auch nicht.
24.9. Roncesvalles
Es tut mir leid aber die Nacht war einfach nur das Allerletzte. 10 Leute auf ca. 5x5 Metern. Keine 10 Minuten nach endgültigem „Licht aus“ fängt der erste, ein 70jähriger Franzose, zu schnarchen an. Na gut denke ich, war klar, dass das kommt. Kannst es nicht ändern, füge dich deinem Schicksal. Aber dann: Das Crescendo wurde immer lauter. Also greife ich zu meinen Ohropax.
Es hilft nichts. Das Geschnarche ist bereits so laut, dass ich es höre als hätt ich gar keine Stöpsel in den Ohren!
Als ob das nicht schon genug wäre, stimmt etwa 20 Minuten später eine Frau in`s fröhliche Gaumensegelflattern ein. Bilder tauchen in mir auf. Kettensäge (Frau) versus schnaubende Dampflok (Mann). Es war die Hölle. An schlafen nicht zu denken. Es blieb mir tatsächlich nichts anderes übrig als darauf zu warten, dass eine mich übermannende Müdigkeit aus dem Spiel nimmt. Irgendwann hat das auch geklappt, doch im Endeffekt waren es lächerliche 3 Stunden Schlaf. Und unzählige wach. Das Beste ist, dass die, die mich nicht schlafen haben lassen gleich eingeschlafen sind, durchgeschlafen haben und fröhlich pfeifend um 6 Uhr dem Bett entstiegen sind. Eine Frechheit! Ich hätte beiden eine knallen können. Interessanterweise war das Gegrunze, soweit ich dem französischen mächtig bin, bei den anderen in der Früh gar kein Thema! Sind die alle so genügsam oder einfach zu feige etwas zu sagen?
Das Bett war übrigens so ekelhaft, dass ich es vor dem hineinlegen zweimal mit Alkohol abgesprüht habe in der Hoffnung, ein paar darauf wohnende Keime zu beseitigen. Neben meinem Kopf an der Wand im Bodenbereich war übrigens ein brauner Fleck, der sich von der Wand herunter zu einem kleinen Häufchen verdichtet hat. Was auch immer das war. Ich hab`s notdürftig mit Klopapier abgedeckt, in der Hoffnung, dass mir der Anblick in der Früh nicht unmittelbar ins Gesicht springt. War sicher nur ein alter Schokoriegel.
Völlig übermüdet schäle ich mich aus dem Schlafsack und zwänge mich schlaftrunken in meine Klamotten. Als letzter Inbunde. Alle anderen sind schneller und räumen bereits das Feld. Kein Wunder, die sind ja auch gut ausgeruht.
Dann der Schock: Meine neuen Wanderstöcke sind weg. Ich hab genau gewusst, wo ich sie abgestellt habe. Direkt neben der Eingangstüre. Weg. Die ganze Situation neu, ich allein im Haus, alle weg inklusive meiner Stöcke. Ich hab es nicht glauben können. Jemand hat meine Stöcke gestohlen! Oder nur versehentlich mitgenommen? Ach was. Jeder weiß doch erstens ob er Stöcke hat und zweitens wie die aussehen und sich vom Griff her anfühlen. Da greift man doch nicht daneben.
Ich war den Tränen nahe so wütend und verzweifelt war ich, stand mir doch die schwierige Pyrenäenüberquerung bevor, bei der ich aufgrund meiner Kondition auf die Stöcke angewiesen war. Und teuer waren sie auch. Ich hetze ganz alleine im völligen Dunkel im kleinen Lichtkegel meiner Stirnlampe bergan. In dem Moment erschienen mir die zwei Stöcke mein ein und alles zu sein. Weitergehen ohne sie nicht vorstellbar. Ich hab doch hier eh so gut wie nichts…und selbst davon fehlt jetzt was. Verzweiflung steigt in mir auf. Was sollte das? Die nächste Prüfung? „Bitte Gott gib mir meine Stöcke zurück!“
Wahrscheinlich doppelt so schnell als üblich und mit pochendem Herzen komme ich total verschwitzt in der Frühstücksbar in Orisson an. Ich stürme voller Zorn in den Raum. Manche Pilger drehen sich um oder schauen von ihrem Teller auf, verstehen nicht was los ist. Ein paar meiner Mitschläfer die ich erkenne, rufe ich zu was passiert ist. Sehr interessiert scheinen die allerdings nicht zu sein. Ich suche alles ab, finde nichts und gehe aufgelöst wieder in`s Freie. Umrunde das Haus. Da. Meine Stöcke stehen zusammengeschobenen halb versteckt neben dem Wirtwagen. Das wird doch nicht der junge, angesoffene Besucher von letzter Nacht gewesen sein? Vielleicht war „einen im Tee zu haben“ für ihn ausschlaggebend sich meiner Stöcke zu bemächtigen, damit er nicht umfällt. Naja, der besagte Mann war nicht aufzutreiben um ihm den Marsch zu blasen und meine Stimmung, trotz Freude über die wiedergeschenkten Stöcke, im Keller. Angefressen habe ich mich dann alleine hingesetzt und gefrühstückt. Mir konnten gerade alle gestohlen bleiben. Ich habe dem Herrgott jedenfalls nicht nur einmal gedankt, dass er mir die Stöcke zurückgegeben hat.
Witzig, gestern die Story mit der Kamera und heute verliere ich etwas. Sollte das eine Vertrauensübung sein? Ich war jedenfalls außer mir und überhaupt nicht in meiner Mitte. Im Radio spielte währenddessen im Frühstücksraum ein Lied: „I see trouble everywhere..“.
Ha-Ha. Extra für mich.
Losgegangen bin ich im Morgengrauen. Die Pyrenäenüberquerung im Blick. Ein wunderbarer Sonnenaufgang bemüht sich meine schlechte Laune zu vertreiben. Das Gelände schlängelt sich steil bergauf. Ein starker, böiger Gegenwind scheint die Gehenden zu fragen ob sie das hier wirklich wollen.
Manchmal habe ich das Gefühl nur noch ein Km/h zu gehen. Mühselig schleppe ich mich voran. Am Wegesrand stehen die ersten Kreuze, die uns Pilgern mitteilen, dass an dieser Stelle ein Pilger sein Leben beendet hat. Das hat mich traurig gemacht und ich bin den ganzen Weg über an diesen Stellen stehengeblieben und hab kurz innegehalten. Am ersten oder zweiten Tag der Pilgerschaft schon sterben? Nur Gott weiß warum. Interessanterweise bin ich gar nicht um mich und meinen Körper besorgt. Vielleicht wegen der Ergometrie und dem „Ok“ meiner Ärzte. Oder ist schlicht meine Sorge in den Hintergrund getreten? Der Weg fühlt sich anstrengend aber gut an.
Kurz vor dem Pass auf 1400m Höhe sagt mir mein Körper recht deutlich was er davon hält 4,5 Stunden angestrengt zu marschieren und viel zu wenig Pausen zu machen. Mit Wasser und Traubenzucker kann ich ihn wieder besänftigen und zum Weitergehen überreden.
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