Dann, sie hatten schließlich den Entschluss gefasst, doch endlich eine Suchmannschaft auf die Beine zu stellen, stolperte Hans Güldner über ein Hindernis am Boden und kam zu Fall. Schimpfend rappelte er sich wieder auf und gab dem Hindernis einen wütenden Tritt, um erstaunt festzustellen, dass er weich nachgab, wie ein Tierkadaver. Sie hatten kein Licht dabei, und so mussten sie den Gegenstand mit ihren Händen untersuchen. Sehr schnell und mit wachsendem Schrecken stellten sie fest, dass da ein Mensch vor ihnen lag, und die klebrige Flüssigkeit an ihren Händen fühlte sich an und roch wie Blut. Sie fanden schnell heraus, dass es sich um Heinrich handelte. Vielleicht lebte er noch, aber er war nicht bei Bewusstsein. Unter den gegebenen Umständen konnten sie kaum herausfinden, was ihm zugestoßen war. Sie hatten nichts gehört, was angesichts der Geräusche des heftigen Windes in den Baumkronen auch nur schwer möglich gewesen wäre.
Nach einem anstrengenden Marsch zurück nach Wiedling, auf dem sie Heinrich die ganze Strecke tragen mussten, kamen sie endlich bei ihm zu Hause an, brachten ihn dort in die Küche und legten ihn auf die Bank. In der ganzen Zeit war er anscheinend nicht mehr zu Bewusstsein gekommen, denn er hatte kein Lebenszeichen von sich gegeben. Und jetzt, im trüben Licht der Öllampen, stellten sie fest, dass er tot war. Woher er die Verletzung an seinem Kopf hatte, konnten sie sich nicht denken. Sie rührte auf keinen Fall von einem Sturz. Sie war ihm eher mit einem eisernen Hilfsmittel beigebracht worden, und wahrscheinlich war er schon tot gewesen, als sie ihn fanden. Der Gedanke, dass Heinrich nur ein kleines Stück von ihnen entfernt umgebracht worden war, erfüllte sie mit Entsetzen, aber so musste es gewesen sein. Hans deckte ihn mit einem Laken zu, das ihm von einer der Frauen, die bei der Geburt halfen, gegeben wurde. Das geschah, als die Wehen bei Heinrichs Frau einsetzten.
Der Holzfäller verließ das Haus, um den Pastor und den Dorfschulzen zu benachrichtigen, wie es in einem solchen Fall üblich war. Der Dorfschulze würde nach der Polizei schicken. Ein Arzt wurde jetzt nicht mehr benötigt. Aber bis er da gewesen wäre, er hätte aus dem entfernten Brelingen kommen müssen, wäre auf jeden Fall viel Zeit vergangen und seine Ankunft vielleicht ohnehin zu spät erfolgt.
Zu ihrem Glück hatte die Ehefrau Heinrichs von all dem nichts mitbekommen. Sie lag in einem Raum nebenan und war sehr mit sich selbst beschäftigt, während die Hebamme und die drei anderen Frauen Vorbereitungen für die Geburt ihres Kindes trafen. Dass zwischendurch eine der Hilfsfrauen mit einem Laken das Geburtszimmer verließ, blieb ihr verborgen, und trotz der Trauer, die in der Küche herrschte, verhielten sich die Anwesenden andächtig still, damit Heinrichs Frau in ihrem Zustand ja nichts davon erfuhr. Sie würde es früh genug tun, und ihr seelischer Schmerz würde größer sein als der körperliche durch die Wehen. Selbst die drei Kinder Heinrichs, denen die Tragödie nicht vorenthalten werden konnte, blieben stumm in ihrer Trübsal und ihrer Verzweiflung.
Heinrichs Frau brachte ein Mädchen zur Welt. Es war gesund und kräftig und außergewöhnlich hübsch für ein Neugeborenes. Hätte Heinrich es noch erleben können, wäre er stolz und glücklich gewesen. Sie wurde Walburga genannt.
So brachte ein tragisches Schicksal an ein und demselben Tag großes Leid und große Freude in die Familie. Doch Walburga durfte kaum mehr als zwölf Jahre im irdischen Leben bleiben.
Der Beutel mit der Brosche von Heinrichs Frau wurde tatsächlich gefunden, aber an einem Ort und zu einer Zeit, mit denen keiner mehr rechnete.
Als Theo die Augen aufschlug, wusste er nicht, wo er war. Er wusste zwar, dass er Theo hieß, natürlich hieß er Theo, Theophemus Elend, aber ein Teil von ihm besaß die Identität eines Holzfällers namens Heinrich, und den hatte soeben ein furchtbares Schicksal ereilt. Der überlebende Theo fühlte sich in seinem Wesen zerrissen, denn sein zweites Ich war in einer schaurigen Nacht durch einen Mord ums Leben gekommen, an dessen Einzelheiten sich Theo nicht mehr erinnern konnte. Nur undeutlich war ihm gegenwärtig, dass seine Frau in der gleichen Nacht ein Kind bekam. Aber das gewahrte er wie eine verblasste Erinnerung aus ferner Vergangenheit.
Theo verharrte in diesem Augenblick in einer Gemütsverfassung, die all seine Sinne lähmte. Er hörte weder das leise Schnarchen von Cornelia noch fiel ihm die vollkommene Dunkelheit auf, die ihn umgab. Es war zwar Dreiviertelmond, aber der war schon wieder unter den Horizont getaucht, und die Gardinen waren dicht genug, um das Licht der Sterne nicht in das Zimmer zu lassen. Theo lag da und war erfüllt von einer Entrückung aus seinem bisherigen Dasein, die er später weder beschreiben noch begreifen konnte. Er konnte sich nicht einmal einreden, dass so der Zustand zwischen Leben und Tod sein musste – das Gefühl, im einen nicht mehr zu sein, und im anderen noch nicht. Dabei nahmen die beiden Wesen, die er für eine kurze Zeit gewesen war, eben diese Zustände ein: Der eine lebte noch, der andere war gestorben. Doch der überlebende Teil wurde durch den verstorbenen angezogen, und Theo spürte, wie er sich gegen diese Kraft anstemmen musste.
Dann gelang es ihm, diesen lähmenden Zustand zu überwinden und in die Gegenwart zurückzufinden. Sein gegenwärtiges Wesen setzte sich durch und warf die zweite, fremde Identität ab. Es erkannte, dass er nur Theo hieß, Theo war und wohin er gehörte. Und jetzt, als er sich auf seine wahre Existenz besonnen hatte, traf ihn das Furchtbare dessen, was er gerade erlebt hatte, wie ein Schlag. Er richtete sich abrupt auf und schaltete das Licht an.
„Was ist denn?“, beschwerte sich Cornelia im Halbschlaf.
„Heinrich ist tot. Er wurde ermordet.“
„Mitten in der Nacht? Hatte das nicht bis morgen Zeit?“ Cornelia drehte sich um. Schneller als gewöhnlich um diese Nachtzeit wurde auch sie wach. „Wer ist Heinrich? Und warum wurde er ermordet?“
Es dauerte eine Weile, bis Cornelia auf den Gedanken kamen, Theos Traum mit dem umgebrachten Holzfäller aus dem achtzehnten Jahrhundert in Verbindung zu bringen.
„Ich war Heinrich“, erklärte Theo. Er war immer noch tief bewegt von den Ereignissen. „Über den Mord kann ich nicht viel sagen. Da waren zwei Männer, es war schon dämmerig. Dann bekam ich einen Schlag auf den Kopf. Schwärze. Plötzlich konnte ich den Schnee sehen. Wie winzige Sterne tanzten die Flocken um mich herum.“
Cornelia richtete sich auf.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte sie und legte einen Arm auf seine Schulter.
„Nein, überhaupt nicht. Das war ein Traum! Ein furchtbarer Traum.“
„Oh, wie schrecklich“, fand Cornelia, nachdem er ihr alles erzählt hatte. „Ich kann verstehen, dass dich das mitgenommen hat.“
„Mehr als das“, sagte Theo. „Es war alles so echt, als hätte ich es wirklich erlebt. Es kam mir so vor, als existierten in mir zwei Persönlichkeiten, ich und dieser Heinrich. Ich bin froh, dass ich am Ende übergeblieben bin.“
Cornelia gab Theo einen Kuss.
„Ich auch. Aber meinst du nicht, dass du ein wenig übertreibst mit deiner Anteilnahme an meinen furchtbaren Erlebnissen?“
Es war das erste Mal, dass Cornelia eine ironische Bemerkung darüber machte.
„Wie könnte ich dich damit allein lassen? Das tue ich alles aus Liebe, glaub´ mir. Dafür bin ich bereit, auch große Opfer zu bringen. Sagte ich nicht schon, ich werde dein Held sein?“ Dann lachte Theo. „Ich hoffe, du kannst jetzt trotzdem weiterschlafen.“
„Mit einem Helden an meiner Seite bestimmt – es sei denn, ich träume jetzt von Heinrichs Frau.“
„Das wäre tragisch.“
„Mehr als das, wenn mein Traum genauso lebensecht wird.“
Nun, das war nicht der Fall. Den kurzen Rest der Nacht wurde die Ruhe von keinem der beiden mehr gestört, weder durch einen verstörenden Traum noch durch ein anderes Ereignis.
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