Was war passiert? Leon Petrollkowicz hatte doch nichts anderes getan als seinen und den Einkaufswagen einer Frau vor sich herzuschieben. Sicher, für den Bruchteil einer Sekunde war diese Frau an ihm vorbeigehuscht, hatte sich noch für die Mühewaltung des Schiebens bedankt, um dann vor ihm die Waren auf das Fließband zu legen und den Zahlvorgang durch umständliches Suchen einzuleiten. Und er stand jetzt in dem Verdacht, das Portemonnaie gestohlen zu haben? Die Obrigkeit würde jetzt ihre Pflicht tun. Leon musste an Franz Kafka denken, der in seinen Romanen wie in seinem Leben permanent gegen eine bornierte Bürokratie und Exekutive anrannte, die ihn peinigte, fertigmachte, knechtete, ihn hochkommen ließ, nur um ihm anschließend gleich wieder den Fuß in den Nacken zu stellen. Finanzamt, Polizei, Registergericht, Vermessungsbehörde, Passamt, Amtsgericht, Arbeitsgerichtsprozess, Krankenkasse etc. etc. Er hatte doch schon genug mit all diesen selbstzufriedenen Staatsdienern zu tun, warum stand er jetzt schon wieder vor so einem subalternen Amtsbüttel? Wegen einer Frau! Hatte Kafka in seinen Romanen immer noch Frauen, die ihn liebten und ihm halfen, so war er, Leon, in seinen Demütigungen nicht nur allein gelassen, sondern wurde sogar noch von einer Frau über die Brüstung der bürgerlichen Anständigkeit geschmissen: Zur wohlgefälligen Selbstwertsteigerung der kleinen und kleinsten Gesetzeshüter. Wie lässt Kafka doch noch den Türhüter in „Der Prozess“ über sich sagen: „Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“
Der Mann an der Schreibmaschine, offenbar der Hausdetektiv, produzierte so eigenartige Zuckungen, wenn er von einer Zeile zur anderen wechselte, als wolle er schon mit der Körpersprache seinen Unwillen über die Infamie der sich alle so schuldlos gebärdenden Kaufhausdiebe zum Ausdruck bringen. „Die kriege ich schon!“, wollte er wohl sagen. „Mir kann keiner etwas vormachen.“ Schließlich wäre er ja seit mehreren Jahren in diesem Geschäft und würde seine Pappenheimer schon kennen. Zwischen den Zuckungen und dem Hin- und Herschieben des Schreibmaschinenschlittens sah er immer wieder verächtlich an dem Delinquenten hoch, der nach seiner Ansicht nun wirklich keinen vertrauenswürdigen Eindruck machte. Wie der schon angezogen war! Einen abgeschabten Regenmantel, wo es doch gerade im Angebot des Kaufhofs so günstige gab, ältere Schuhe, wahrscheinlich aus dem Altkleidercontainer gefischt, und als Krönung eine Karikatur von einem Hut. Leon Petrollkowicz sah an sich herunter und musste in diesem Augenblick an die ständigen Aufforderungen seiner Lebensgefährtin denken, sich seiner Position entsprechend – als Inhaber eines mittelständischen Unternehmens war er ja schließlich wer – zu kleiden. Am schlimmsten war der Hut, den er liebte und als seinen Talisman ansah. Mit diesem Hut fuhr er Ski, wanderte in den Bergen, ihn behielt er selbst beim Malen auf oder wenn es in einem Raum zu kalt war. Seine Anna hasste diesen Hut. Er hatte ihn schon auf der Piste verloren, im Zug vergessen, und einmal war er sogar in der Mülltonne gelandet. Aber wie durch ein Wunder gelangte dieses „Möbel“ durch den Müllmann, die Post oder Bahn immer wieder in seine Hände. In diesem Bereich funktionierte die öffentliche Hand.
„Nehmen Sie den Hut ab!“ befahl der Mann an der Schreibmaschine mit einem kenntnisreichen Detektivlächeln. Der Geldbeutel konnte ja dort versteckt sein. Er war es aber nicht, wie sich alsbald herausstellte. Der Mann schrieb weiter und weiter, so als würde er den Hergang der Tat ganz genau kennen und zum Schluss den Dieb nur noch auffordern, das Protokoll zu unterschreiben. Dazu kam es aber nicht. Die sich bestohlen fühlende junge Dame schrie plötzlich auf, fühlte im Futter ihres Mantels etwas Hartes und zog wenig später das Portemonnaie heraus. Es war offenbar durch ein Loch in der Manteltasche in das Futter gerutscht.
Der Mann an der Schreibmaschine, die Verkäuferin, der Polizeibeamte, sie alle waren nicht etwa erleichtert, sondern entsetzt. Wofür hatten sie sich diese Arbeit gemacht! Keine Entschuldigung in Richtung Leon Petrollkowicz, sondern strenge Blicke für die junge Dame. War das nicht so etwas wie Irreführung des Apparates, der schon wie geschmiert zu funktionieren begann? „Also denn“, räusperte sich jemand mit kleinlauter Stimme aus dem Hintergrund. „Damit wäre ja alles geklärt. Die Waren aus den Einkaufswagen habe ich leider schon wieder in die Regale gestellt. Man konnte ja nicht wissen …!“ Leon Petrollkowicz sah geringschätzig auf die kleine, etwas dickliche Verkäuferin herunter, die wohl etwas vorschnell das Verfahren eingeleitet hatte. Er überlegte einen Augenblick, ob er auf eine Entschuldigung drängen oder der ganzen Mannschaft einschließlich der vermeintlich Bestohlenen die Meinung sagen sollte. Aber er tat gar nichts. Er schwenkte seine Käsebrötchen hin und her und eilte aus dem Verlies, um keine Sekunde länger als nötig in dieser beklemmenden Atmosphäre aushalten zu müssen. Er war kaum einige Schritte gegangen, als er von der jungen Frau von hinten angesprochen wurde: „Entschuldigen Sie vielmals. Mir ist das Ganze so peinlich. Ich hätte auf diese blöde Wichtigtuerin an der Kasse nicht hören sollen.“
„Schon gut“, sagte Leon Petrollkowicz etwas ungehalten und ging schnell weiter, verlangsamte aber nach einer Weile seine Gangart und sah sich nachdenklich nach der jungen Frau um. Das war sie doch! Das war doch Helen Laroche, die Mitarbeiterin des allmächtigen Vorstandsmitglieds der berühmten Bank Cassa Nostra AG, Dr. Dr. hc. Alexander Maibohm. Er hatte sie in der Eile des Gefechts und bei dem schummrigen Licht in dem Verhörraum nicht erkannt. Er wartete, bis sie in Reichweite war.
„Sind Sie nicht Frau Laroche?“
„Natürlich, jetzt erkenne ich Sie, Herr Petrollkowicz. Mussten wir uns nach so langer Zeit auf diese Weise wiedersehen?“
Leon Petrollkowicz hatte geschäftlich wenig mit Helen Laroche zu tun, weil für ihn ein junger Handlungsbevollmächtigter aus dem gleichen Vorstandssekretariat zuständig war. Das letzte Mal hatte er sie anlässlich eines Investor-Relationsgesprächs im Plaza Hotel in New York flüchtig gesprochen, als ihr Chef etwas von ihm wissen wollte. Dr. Maibohm war als Beiratsvorsitzender der Firma „Public Petrollkowicz“ eines seiner wichtigsten Aushängeschilder. Er brachte nicht nur die Bank als Kunden ein, sondern auch eine Reihe bekannter Unternehmen, die von dem Know-how der renommierten PR- und Marketingagentur profitieren wollten.
Helen Laroche war noch immer etwas verlegen, fing sich aber langsam wieder, entschuldigte sich zum wiederholten Male und fragte ihn schließlich, ob er schon gegessen habe und wenn nein, ob sie ihn vielleicht als Wiedergutmachung in ein gegenüberliegendes Restaurant zu einem kleinen Essen einladen dürfe. Sie hatte sich ein paar Kleinigkeiten aus der Lebensmittelabteilung mit ins Büro nehmen wollen, war aber, wie auch Leon Petrollkowicz, nicht in der Stimmung, sich noch einmal alles aus den Regalen zusammenzuholen. Leon hatte zunächst an seine angebissenen Käsebrötchen gedacht, diese aber schnell in seiner Manteltasche versteckt, um die Gelegenheit beim Schopfe packen zu können. Wenn ihm auch eine Einladung unter anderen Voraussetzungen lieber gewesen wäre, so war er dennoch spontan einverstanden, nicht nur wegen der versöhnlichen Geste, sondern weil er unter normalen Umständen niemals die Chance gehabt hätte, die wahrscheinlich attraktivste, wenn auch nicht ganz unumstrittene Frau dieser Bank näher kennenzulernen. Man tuschelte hinter vorgehaltener Hand, dass sie ihrem Chef auf mehrere Arten diente und so einen immensen Einfluss auf das Geschäft genommen habe. Dank ihrer hohen Intelligenz und Kompetenz habe sie alle Aufgaben des Vorstandssekretariats der Bank prompt erledigt und sei auch sonst ihrem Herrn und Gebieter gefällig, was offiziell natürlich heftig bestritten, dennoch aber in der für Geschichten so anfälligen Bank-und Börsenwelt eifrig kolportiert wurde
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