Inzwischen war es Nacht geworden und am Himmel leuchtete der große Wagen. Wer wollte den Raum, der uns umgibt, je verstehen, oder die Zeit? Die Tiefe der Welt, sie zieht uns hinaus, weg von dem, was die Menschheit im Lärm von Streit und Gezänk an Wissenschaft, Hypothesen und Theorien auf kleiner Flamme so kocht, aufgeschäumt und verworfen am selben Tag. Was dieser Wissenschaft fehlt ist der Kitt, der Kitt, der die Dinge, wie sie sich in der zeitlichen Abfolge ereignen, verbindet und der sie hält, hält auf einer Bahn, die nie auch nur eine Sekunde lang den Pfad einer Ordnung verlässt. Dies gilt für Atome und Moleküle in einem Käfer wie für die große Galaxie. Der Gedanke wir seien nur ein Stäubchen im All, macht in einer Welt, in der Entfernungen keine Bedeutung zukommt und es so etwas wie Zeit nicht gibt, keinen Sinn. In der kleinsten Mücke ist dieser Gott zugegen. Wie in einem Delirium behaupten, die am lautesten schreien, heute die Frage nach diesem Insekt sei geklärt. Sie ist es nicht! Sie war es noch nie.
Fragen, die wir nicht beantworten können, wie die nach einem persönlichen Gott, der uns kenne und bei unserem Namen gerufen habe, sollten wir, bevor wir nicht gelernt haben anders zu denken, nicht stellen. Mit der Zahl fangen wir nichts an, Gott sehr wohl. Wer bin ich und wenn ja wie viele, wird uns für immer verschlossen sein. Die Perspektive Gottes einnehmen können wir nicht. Das Kinderlied ist da ehrlicher, Gott kennt jedes seiner Wesen, jedes Fischlein, jede Mücke, jedes Kind das abends zu Bette geht. Wäre, wenn wir die Natur anders verstehen, doch rein physisch gesehen keines von diesen Wesen am Leben. Nun hatten die beiden den Wald erreicht. Ninon war klar, überzeugen konnte sie den Philosophen von einer Welt, die nicht sinnlos war, nicht, einer Welt, die sich trotz aller Widersprüche, die wohl zu ihr gehörten, einer höheren Ordnung fügte. Nicht, weil sie ihm nicht mit hervorragenden, ja exzellenten Argumenten Paroli bieten könne, oder der Meinung gewesen wäre, der Weg bis zum Dorf, so weit er sich zog, sei er doch, um die Welt zu erklären, zu kurz, das nicht. Sie glaubte an die Macht des Eigensinns und dass er größer sei als jedes noch so gute Argument. Wer sich selbst Mauern erbaut und diese schön findet und klug, den muss man lassen.
Und so, um den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, und das begonnene Gespräch fortzusetzen, ließ sie das mit den Argumenten sein und setzte ganz aufs Gefühl, in der Hoffnung da sei es schwerer zu lügen. Was sie genau sagte ist nicht verbürgt. Mit Blick zum nächtlichen Firmament, dessen tiefem, nachhaltigem Eindruck sich auch Sartre nicht entziehen konnte, wollte sie ihn, der auf die Wissenschaft schwor, so ganz durch die Blume darauf hinweisen, ob es denn Wissenschaft sein könne, jenes unendliche Mehr, das uns die Dinge sagen, zum Verschwinden zu bringen. Dem Unendlichen läuft man bekanntlich nicht hinterher. Wo ist da die Grenze in Sicht, von der die Wissenschaft glaubt, sie könne sie erreichen, im Käfer, am Himmel, hier wie dort? Oder anders herum, wo ist bei Schopenhauers Käfer der Anfang, an dem die Wissenschaft ihre Recherche beginnen will, zu suchen, fällt er doch mit der Größe, die er ist, mit der Tür ins Haus? Vorgelagert ist einer solchen Größe nichts, keine Physik, keine Chemie. Auch die Frucht so abzuschälen, dass ein Kern übrig bleibt, den man glaubt verstehen zu können, ist blanke Illusion. Ein sicheres Fundament, auf dem die Biologie ruht, ist nicht zu finden, ja im Gegenteil, was da auf der Ebene von Atomen und Molekülen geschieht, wenn sich filigran bis ins letzte Detail hier der Fühlfaden eines Schmetterlings, dort eines seiner hunderten von Augen heranbildet, widerspricht allen Gesetzen, die wir kennen. Bequem wäre es, wenn es den Reduktionismus, an den manche sich klammern, gäbe, doch leider, es gibt ihn nicht. Schon wer so tut als gäbe es ihn, sitzt im falschen Abteil. Mit diesem Wort Reduktionismus tut man wie Popper so, als gäbe es da unten bei den Atomen und Molekülen in unserem Käfer ein sicheres Fundament. Doch dieses Fundament gibt es nicht. In Schichten gebaut, hier Atom oder Molekül, dort die Zelle und über allem der Geist, nur um die Illusion aufrecht zu erhalten, ein Anfang sei da irgendwo schon gemacht, ist die biologische Wirklichkeit nicht. Der Käfer beginnt ganz unten beim Atom oder Molekül, das ist schon wahr, nicht erst bei der Zelle, doch genau da ganz unten, treffen wir auf eine Form der Bewegung und Interaktion von Teilchen, die von allem so verschieden ist, das wir kennen, dass Worte nicht hinreichen, es der Wirklichkeit gemäß zu fassen.
Setzt man einem Philosophen Grenzen, bekommt er die Krätze, damit wollte Ninon diesen großen Mann packen. Fiel es ihm nicht mehr auf, dass die Naturwissenschaft, wie nichts sonst für sich in Anspruch nahm, die Welt sei erklärt und wenn vielleicht auch noch nicht alles geklärt sei, so doch zumindest vom Prinzip - und dies zur Philosophie, die vom Fragen lebt, in Widerspruch stand? Fiel es ihm nicht mehr auf, dass auf der einen Seite die Behauptung, die Welt sei erklärt, auf der anderen, die feste Überzeugung, sie sei nach wie vor offen, miteinander kollidierten und es eine solche Zweiteilung der Welt nicht gibt, nicht geben konnte? Was bedeutet all das Wissen, das wir heute haben, die Kolonnen von Zahlen, die Formeln, die Mathematik, wenn wir die Dynamik der Natur nicht begreifen und das Geheimnis der Zeit? Das alles ist totes Holz, es bedeutet nichts. Die Worte von Walt Whitman, die er vor hundert Jahren schrieb, mahnen uns mit dem, was wir Wissenschaft nennen, neu zu beginnen, ohne Eigensinn, ohne Streben nach Macht, ohne falschen Stolz. So oder ähnlich mag es sich wohl angehört haben, was Ninon dem großen Philosophen der an die Wissenschaft glaubte, sagen wollte, nichts anderes, als dass sie angesichts der Größe dieser Welt gar keine war. Walt Whitman sagt es uns so: „Als ich den gelehrten Astronomen hörte,/ Als die Beweise, die Ziffern, untereinander geschrieben, aufgereiht waren vor mir,/ Als er die Karten, die Diagramme mir zeigte, sie zu addieren, dividieren, sie zu vermessen,/ Als ich auf meiner Bank den Astronomen hörte, wie er unter stärkstem Applaus seine Vorlesung hielt,/ Wie bald, ich weiß nicht warum, wurde ich müde und krank./ Und blieb’s, bis ich aufstand, hinausschlich und davon ging, mir selbst überlassen,/ In die zaubervolle, feuchte Nachtluft, und dann und wann/ Aufschaute in tiefem Schweigen, bis zu den Sternen.
Der Irrtum ist die tiefste Form der Erfahrung .
Martin Kessel (1901-1990)
Haben wir heute im naturwissenschaftlichen Zeitalter wirklich ein gutes Gefühl? Die Welt der Baukräne und Flugzeuge gehört uns. Die Welt der Schmetterlinge und Ameisen gehört uns nicht. Gleichen wir mit unserem Begriff Naturwissenschaft nicht eher dem Bettler, der am Straßenrand sitzt und davon träumt, er besäße eine Villa in Frankreich, ein Haus in den Bergen und eine Farm in Südafrika?
Den Schmetterling und die Ameise haben wir zerlegt wie ein kleiner Junge, der sein Spielzeug auseinander nimmt, um zu wissen, wie es funktioniert. Wir heißen dieses Spiel Wissenschaft. Gegenstand unserer Zerlegungswut ist die Natur, deshalb nennen wir es Naturwissenschaft. Unser Wahlspruch lautet, kaputt machen kann man alles, was ja auch stimmt. Und da unsere Instrumente immer feiner werden, wird das Sammelsurium immer größer. Und keine Frage, wir haben alles benannt. So entstand beim staunenden Publikum der Eindruck, wir wüssten schon viel. Nun liegen die tausend Einzelteile um uns herum und wir bekommen sie nicht mehr zusammen. Das Spielzeug, von unendlicher Schönheit, unerreichbar hoher Kunst, voll Leben und Vitalität ist kaputt. Der Weg nach unten, wenn auch bisweilen holprig, war leicht. Nun merken wir, der Weg zurück, dahin wo alles begann, ist nicht möglich. Und wenn wir ehrlich sind, wir kommen nicht einen Millimeter in diese Richtung voran. Wir merken nicht, dass wir hier vor einem Trümmerhaufen stehen, für den es magische Hände bräuchte, ihn wieder in Gang zu setzen. Die Form, die einmal bestand, ist verloren und zu allem Überfluss kommt hinzu, dass sie keinen Augenblick innehielt, sich zu wandeln, was die Sache ins Unendliche hinein kompliziert. Nur ein höheres Wesen mit überirdischen Fähigkeiten ausgestattet, wäre dazu imstande, eine solche Anlage wieder in Gang zu setzen, wir nicht. Wenn wir heute in den Spiegel schauen, erblicken wir den Bettler, der wir sind. Und es überfällt uns ein peinliches Gefühl angesichts der Natur, die wir angeblich besitzen und doch in dem was sie ist, nicht. Es wird uns klar, von einer Naturwissenschaft kann keine Rede sein, was Natur ist, kann nie Wissenschaft werden. Wären die von ehrlicher Gesinnung, die eine solche Art der Forschung betreiben, müssten sie jetzt den Raum verlassen, die Segel streichen und nach einer abschließenden Erklärung die Fahne einrollen.
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