1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Sofern sie in diesem Bewusstsein sich zu Hause fühlen, tauschen viele das Gefühl, jetzt Herr der Natur zu sein, gegen den verlorenen Gott gerne ein. Eine blanke Illusion, denn wie die Natur das macht, was sie macht, weiß bis heute kein Mensch. Was bedeutet all das Wissen das wir heute haben? Es hat uns diesem Rätsel wie die Natur arbeitet nicht nähergebracht, ja mit jedem Detail das bekannt wurde, weiter davon weg. Diese Menschen haben das nicht bemerkt, die unbegreifbare Größe der Natur tauschen sie ein - gegen nichts. Für die Verhältnisse wie sie tatsächlich liegen, haben sie sich nie wirklich interessiert. Als Dynamik einer Entwicklung Schritt für Schritt bekommen wir die Natur, so wie man sie uns heute lehrt, nicht zu Gesicht. Der Schweizer Zoologe Adolf Portmann hat seinen Zuhörern einmal geraten, sich vorzustellen, ein paar Liter eines schleimigen Kunststoffs würden bei bestimmter Temperatur und Luftfeuchtigkeit plötzlich zu wachsen beginnen und ohne jede Hilfe von außen ein Passagierflugzeug mit Motoren und Elektronik bilden, das sich nach Vollendung aus eigenem Willen (und ohne Piloten) in die Lüfte erhebt und am Flugverkehr teilnimmt. „Erscheint ihnen das zu viel verlangt?“ fragte Portmann seine Zuhörer und erinnerte sie: “Das schleimige Kügelchen einer Eizelle leistet noch viel mehr.“ Nur allzu sehr ist man sich bewusst, wie peinlich es wäre, würde sich einer der Zuhörer erdreisten zu fragen, wie es denn im Bereich des Allerkleinsten, der Atome und Moleküle, zugeht, wenn da ganz plötzlich aus der Raupe ein Schmetterling wird. Hände weg von solchen Sachen! Was Zeit ist in der Natur, wie ein Schritt dem anderen folgt, bleibt ein unbeschriebenes Blatt. Anstelle der Zeit, was sie wirklich macht, stehen Geschichten, Geschichten, die zu dem was passiert nicht passen und treffsicher all das ausklammern, worum es geht. Das Märchen hat schon immer alles gewusst. Versucht man dem geheimnisvollen Treiben der kleinen Männchen auf die Schliche zu kommen wie sie das machen, heimlich still und leise, aus dem rohen Material Schuhe von allerhöchster Qualität zu fertigen, verschwinden sie auf nimmer wiedersehen. Das ist es dann wohl gewesen, wenn Goethe sagt, dass wir nichts wissen können. Von der Dynamik der Natur verstehen wir nichts, nicht den kleinsten Ruck.
So zu denken hatte Ninon von ihrem Vater gelernt, auch er war ein durchaus unkonventioneller Mensch. Er lehrte sie ein anderes Bild von der Natur, vor allem Respekt vor den Tieren. Und er wusste, für seine Gesundheit sorgen musste man selbst. Wenn ihm einer erzählte, das mit der Natur sei doch heute alles wissenschaftlich in trockenen Tüchern, so sagte er nein. Er lehrte sie, an das Nichterklärbare, das Wunder zu glauben. Während ihre Freunde und Kameraden an die Natur keinen fragenden Blick mehr verschwendeten, war für sie keines ihrer Rätsel beantwortet. So wuchs in ihr das Bewusstsein, Distanz zu halten zu all den Dingen, von denen man ihr erzählte, dass sie als abgehakt galten. Im selben Maße, wie diese andere Sichtweise der Natur in ihr wuchs, verlor sie den Respekt vor Autoritäten. Was sich mit dem stolzen Namen Wissenschaft schmückte, rückte immer mehr ab, in Richtung einer zweifelhaften Veranstaltung und sie lies sich ihre Gewissheit nicht nehmen.
Dass die Natur anders war, wurde ihr zum ruhenden Pol, zur unerschütterlichen Gewissheit einer höheren Welt. Mit Blick auf die Natur konnte sie nichts mehr um sie herum irritieren. Sie wurde ihr zur letzten, alleinigen Autorität mit der Gewissheit, was auch immer geschah, es wird alles gut. So lebte sie mit ihr unter einem Dach heiliger Hallen und wie auf einem anderen Planeten. Über all das wissenschaftliche Gerede, was man alles wisse und herausgefunden hätte, konnte sie nur noch lachen. Über Dinge, von denen man in Wirklichkeit nichts wusste mit Worten und Begriffen zu reden, als sei alles erklärt, widerte sie an, sie fand es nur lächerlich. Es provozierte sie dieses „alles machen die Atome“, es schien ihr ein Maß nicht zu steigernder Idiotie. Wie in einem verwunschenen Schloss sah sie die Menschen um sich herum gebannt in den Spruch einer gegen jeden Verstand gerichteten Macht, deren Strippenzieher sich den Spaß erlaubten zu erproben, wie weit man im Aufstellen phantastischer Behauptungen gehen könne, mit anderen Worten zu testen, ob es eine Grenze zum Abstrusen hin gäbe oder ob tatsächlich alles geglaubt wird, was Kollektiv und soziale Kontrolle verordnen, so abwegig es auch sei. Auch dachte sie an die Folgen und eines wusste sie sicher, von Dauer kann dieses Weltbild nicht sein. Immer deutlicher wurde ihr klar, dass sich hier ein Ungeist austobte und eine enorme Anstrengung darin investiert wurde, die Menschen zu täuschen. So verlor sie jeden Respekt vor dieser Art von Wissenschaft. Es wurde ihr klar, das war keine Wissenschaft, hier wollte sich zwanghaft eine Idee ausleben. Eine Wissenschaft des Lebendigen gab es nicht und konnte es nie geben, das konnte ihr niemand weismachen. Was wäre wohl los, wenn es anders wäre! Der Mensch als Herr allen Lebens! Der Mensch als Herr über die letzten Geheimnisse, die Natur und sich selbst. Ihr wurde klar, wer solches glaubt ist verrückt. Sie konnten forschen so viel sie wollten, auf das Dahinter kamen sie nie.
Welches Fest würde man feiern, wenn es so weit wäre? Wohl das des eigenen Untergangs. Also ist es nur gut, dass es nie so weit kommt. Und wenn es göttliche, andere als physikalisch-chemische Kräfte sind, die jene astronomische Zahl von Teilchen in Gang setzen, was will diese Wissenschaft herausbekommen, wenn sie diese Kräfte leugnet? In diesem Fall wird das Ganze zum Witz. Und so zog Ninon aus dieser Natur Kraft, gegen alle Lügen. Sie war für sie das lebendige Zeugnis, wie klein der Mensch und die Wissenschaft ist, gegenüber ihr, dem Großen. All diese unfassbaren Kunstwerke, die uns umgeben, wurden für sie Abbild und Zeugnis dafür, was hinter dieser Natur wirkte. Ist dieser Punkt erreicht, so verliert sich der Glaube an die Biologie und an den Tod. Nie haben Atome und Moleküle gelebt, es treibt sie jenes geheime Spiel einer höheren Welt, die abgerückt existiert von dem, was sie tut, sie ist von einer anderen Qualität. Was hinter allen Wandlungen wirkt, ist jenseits unseres Denkens und seiner Kategorien Raum und Zeit, unvergänglich und ewig. Das war der Stand der Dinge in ihrem Kopf, damals nach der Schule. Je mehr sie später dazulernte und vom Leben und der Wissenschaft erfuhr, wusste sie, sie war auf dem richtigen Weg.
Noch hundert Schritte bis zum Wald, noch fünfzig. Sollte sie reden und dabei doch schweigen, reden über Politik, Geld, das Geschäft, die Sinnlosigkeit von allem, oder, die das Geschwätz reizende Schlechtigkeit der Welt? Noch einmal, auf den letzten Metern, nachdem sie den steilen Weg hinter sich hatten, sann sie darüber nach, was wohl zwischen Menschen der Unterschied sei. Und hätte sie reden wollen, so wurde ihr klar, es fehlte hier etwas, ein Begriff, der die falsche Sichtweise eines Menschen wie Sartre auf den Punkt brachte, der die Sichtweise auf die Welt, wie wir sie heute haben, relativierte, und sie als das wenigstens ahnen ließ, was sie ist, als eine Ideologie. Nichts war hier da, mit dem man diesen Ungeist hätte packen können, wo es doch sonst an Begriffen, an denen man eine Sache festmachen oder in Zweifel ziehen konnte, nicht fehlte. Kommunismus, Kapitalismus, Religion, Gott, was auch immer, all das war zu einem Begriff geworden, den man sich vornehmen, und wenn nötig, in Zweifel ziehen konnte. Dass wir heute glauben, Schopenhauers Käfer, gehöre der Wissenschaft und Kräfte höherer Art brauche es dafür nicht, besitzt keinen Namen, wir nennen das Wissenschaft. Wie also sollte man mit einem Menschen wie Sartre darüber reden? Das war nach Eitelkeit, Überheblichkeit, Stolz und Eigensinn das andere, an dem es hier fehlte, gleich an erster Stelle, leben wir doch vom Wort. Nicht in einem Begriff dingfest gemacht, irrlichtert dieser Geist frei, und, ohne dass ihm einer wehren könnte, umher.
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