1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Heute sterben Menschen sogar am Straßenrand. An ihnen laufen wir oft vorbei. Wir beschimpfen sie nicht als Penner und Faulenzer, wir können ihnen aber nicht helfen, sicherlich nicht allen, denn sie scheinen inzwischen Legion zu werden. Also gehen wir an diesen elenden Haufen vorbei und wir gewöhnen uns daran. Es hält uns ja gesund, dass wir uns daran gewöhnen, dass wir an diesen Haufen Elend ohne Rührung vorbeilaufen. Und es kann sein, dass wir auch an einem Haufen vorbeilaufen, in dem kein Leben mehr ist, der einen toten Menschen verbirgt.
Beim Studium der aristotelischen Logik lernten wir die Gesetze des Syllogismus anhand eines klassischen Beispiels: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich. Keiner kann etwas gegen diese logische Schlussfolgerung einwenden. Und keiner wird auch heute noch dadurch beunruhigt. Sokrates ist bekanntlich gestorben, die logische Übung ist also eine Trockenübung ohne Emotionen. Sokrates’ Tod lässt uns völlig kalt. Ob es logisch notwendig ist, zu sterben oder nicht, das spielt im Fall von Sokrates keine Rolle mehr. Er und sein Tod tangieren uns nicht. Er ist zu weit weg von uns – räumlich und, noch mehr, zeitlich. Er hat etwa vor 2500 Jahren gelebt, also noch 500 Jahre vor Augustus. Und dessen Tod macht uns auch nicht mehr traurig.
Man braucht aber in der Geschichte nicht so weit zurückzugehen. Wir haben uns längst an den alltäglichen Tod gewöhnt. Zeitungen sind voll davon, die Nachrichtensendungen verkünden es, und in allen Sprachen der Welt kontinuierlich und unaufhörlich. Bei Massenkarambolagen und Massenmorden sind es gleich Hunderte von Toten, die zu melden sind. Noch krasser ist es bei Erdbeben, Tsunamis und sonstigen Naturkatastrophen. Was ein Mensch oder eine Menschenmenge mangels Mittel und Zeit nicht ohne Weiteres schafft, schafft die Natur spielend. Da sind leicht Tausende von Toten zu zählen. Aber auch der Mensch, als gut geübter Killer, kann es auf Tausende von Toten im Laufe von Monaten oder, wenn es sein muss, von Wochen bringen. Dafür hat er zum Beispiel den Krieg erfunden.
Das alles lässt uns kalt, es muss uns ziemlich kalt lassen, wenn wir gesund leben und nicht verrückt werden wollen, solange wir leben. Eher beklagen wir die Tatsache, dass die Medien immer makabrer werden und uns unentwegt nur oder fast nur solche Katastrophenmeldungen bringen. Ein bisschen mehr Rührseligkeit bringen wir zustande, wenn wir hören, dass Kinder von Bomben zerfetzt werden.
Man muss sich mit dem Tod abfinden: Jede Minute sterben weltweit etwa 100 Menschen (davon 18 Kinder), 32 sterben an Herzinfarkt, 13 an Krebs, 26 an Suizid, 1 durch Krieg.
Das sind Statistiken der World Health Organisation, die die Absicht hat, uns zu beeindrucken. Tatsache ist, wir bleiben davon ziemlich unberührt. Der Mensch ist eben sterblich, oder, ein wenig stärker mitfühlend: Man stirbt leider, so oder so.
Die Natur, die ›Mutter‹ Erde, behandelt uns wie der Baum sein Laub. Wenn der ›Winter‹ kommt, werden wir abgeworfen, und der Verdacht drängt sich auf, dass die Natur, die ›Mutter‹ Erde, dadurch sich selbst leichter fühlt und besser überwintern kann: Im nächsten ›Frühling‹ wird sowieso neues Leben auf Erden sprießen. Die Aufgabe unserer aller ›Mutter‹ ist nicht nur, uns zu gebären, sondern auch uns zu bestatten.
So gesehen muss der Tod des Menschen für die Erde – wie das Abfallen des Laubs im Herbst – gar nichts Schlechtes sein, er ist wahrscheinlich für die Erde sogar das Beste.
Die Erde ist wie ein lebendes Geografiebuch: Beständiges – Meere, Wüsten und Berge – wird für die Ewigkeit verzeichnet. Alles Lebende ist vergänglich. Unser Name – wenn überhaupt – wird auf einer Grabstele eingemeißelt sein. Und er wird nur noch die rühren, die mit uns ›vertraut‹ waren, sich mit uns verbunden fühlten. – Wie der kleine Prinz und seine Rose.
Wir Menschen halten uns für was Besonderes. Das Schicksal des Sterbens macht uns aber allem Lebenden gleich, den Tieren ohnehin und auch dem Gras.
Alles Fleisch ist Gras. Es schaut sich nach der Geburt kurze Zeit neugierig auf Erden um, dann welkt es und stirbt dahin. Manches Fleisch hat nicht mal die Zeit und das Glück zu welken. Das Leben in ihm wird oft gleich nach der Geburt brutal ausgemerzt.
Wohin mit all den Toten? Das Gras verdorrt und wird Erde, die Erde wird wieder Gras und das Gras Erde. Dem gleichen Schicksal sind auch die Tiere unterworfen. Geschieht etwa auch mit uns das Gleiche? Ist auch unser Leben dadurch gezeichnet? Vieles spricht dafür: Vom Staub kommst du und zum Staub wirst du zurückkehren. Und je länger wir den Menschen kennenlernen und erfahren, desto stärker ähnelt er den Tieren. In jeder Hinsicht.
Der Weg zur Kompostierung
Auf Landstraßen rast man gewöhnlich nicht. Man fährt gemächlich, schlendert durch die Dörfer, durch die Landschaft, zwischen einem Bauernhof und dem anderen.
Es ist nicht selten, dass auf der Straße Blut zu sehen ist. Man erkennt es nicht nur an der typischen tiefroten Farbe. Häufig sind auch Fleischfetzen dabei.
Was man nicht immer gleich erkennt, ist, welches Tier unter die Räder eines Autos geraten ist, so verunstaltet sind oft die Reste. Meistens handelt es sich in unserer Umgebung um Kaninchen oder Katzen.
Manchmal liegen aber auch Reste von größeren Tieren da, von Hunden zum Beispiel oder von kleinen Rehen. In diesem Fall wird der Kadaver des Tieres zum Straßenrand geschoben, damit der Verkehr ungestört weiterläuft, wie es eben sein muss.
Autobahnfahren erspart den unappetitlichen Anblick von kleineren Blutspuren. Man fährt schnell und unbekümmert. Aber auch auf der Autobahn bleibt man von nichts verschont. Es werden doch auch öfter größere Tiere überrannt, meistens Hunde. Zwar wird die Leiche des Tieres schnell beseitigt, die eines Menschen bald aufgebahrt, die Unfallstelle wird geräumt, und Blutspuren werden beseitigt. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass auch Spuren von Menschenblut auf der Bahn zu sehen sind. Wenn noch kleine Spuren übersehen werden (man kann ja nicht immer jede Blutspur wegkratzen), dann sorgt dafür die Reibung der Reifen auf dem Asphalt. Mit der Zeit verschwinden sie dann.
Meistens haben menschliche Opfer die Ehre, in die Zeitung zu kommen, Hunde werden seltener geehrt. Frösche und sonstiges Kleintier haben nur dann eine Chance, in die Medien zu kommen, wenn sie in großer Zahl auftreten und überfahren werden, wenn sie also von einer Straßenseite auf die andere geschlossen übersiedeln.
Am nächsten Tag, wenn man die gleiche Strecke fährt, sind meistens schon wieder alle Spuren verwischt. Man kann wieder ungestört weiterfahren.
In den Verkehrspausen kümmern sich nämlich Aasfresser um die Fleischreste: Vögel aller Art – Elstern, Saatkrähen, Mücken, Wespen, Würmer ... Jeder von uns hat es beobachtet. In den Verkehrspausen stürzen sich die Aasfresser – häufiger beobachten wir Vögel – auf die Fleischfetzen. Wenn man mit dem Auto heranfährt, fliegen oder laufen sie weg, aber um sich kurz danach wieder darauf zu stürzen.
Aasfresser nennt man wissenschaftlich Nekrophagen, wörtlich übersetzt, Totenfresser. Es gibt kleine, so wie die Würmer und die Milben und fliegende, wie Elstern, Raben und Geier. Aber es gibt natürlich auch große Totenfresser: alle Raubtiere gehören dazu, die Hyänen und die Schakale sind sogar sprichwörtliche Totenfresser.
Zwischen ›Aasfressern‹ und ›Nekrophagen‹ gibt es, wenn man will, eine kleine semantische Unterscheidung. ›Totes‹ Fleisch ist alles Fleisch, das tot ist. ›Aas‹ ist das in Verwesung übergegangene tote Fleisch. Also sind ›Nekrophagen‹, ganz buchstäblich verstanden, alle, die totes Fleisch essen. Aasfresser sind Fresser von verwesendem Fleisch.
Im allgemeinen Sinn des Wortes fressen die meisten Totenfresser nicht nur Kadaver, sondern auch das Fleisch von Tieren, die sie selbst erlegt haben. Tot ist tot, wie auch immer.
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