Nicht jeder Baum verliert sein Laub und nicht jedes Gras wird in jedem Winter welk, aber jedes Gras stirbt, auf natürliche Weise, weil die Zeit auch fürs Gras den Takt vorgibt, oder gewaltsam, weil es als Futter gebraucht wird: für Schafe, Ziegen und Kühe, als Heu für die Tiere im Stall, als dicke Bohnen und Maiskolben für die Schweine, als Salat und Gemüse für den Menschen ...
Auf dem Umweg des Gefressen-, Verdaut- und Ausgeschiedenwerdens kommt das Gras zur Erde zurück, aus der es hervorgegangen ist.
Alles Fleisch ist wie Gras
»Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Schönheit wie die Blume des Feldes. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt.«11
Zugegeben, im engeren Kontext des Propheten Jesaja besagt dieser Spruch etwas anderes als dieses aus dem Kontext herausgeschnittene Teilzitat. Denn dort wird der Prophet von Jahwe aufgerufen, Israel zu ermutigen, in der Wüste eine Straße für Jahwe vorzubereiten. Wenn in der Wüste alles geebnet wird, wird Jahwe kommen. Und der Prophet soll dies auch verkünden:
»Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Schönheit wie die Blume des Feldes. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn Gottes Odem sie anweht. Das Volk ist Gras. Das Wort unseres Gottes aber bleibt ewig.«
Längst hat sich aber die erste Hälfte des Textes verselbstständigt – als Symbol der Hinfälligkeit und der Vergänglichkeit der Menschen. Brahms hat diesem Text durch sein Requiem eine unvergängliche Kraft verliehen. Bei Jesaja wie bei Brahms sowie im folgenden Gedicht von R. M. Rilke ist die Vergänglichkeit des Menschen nicht trostlos, denn Jahwe, Gott oder »Einer« hält die fallenden Menschen:
Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allem.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
Unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer Maria Rilke (1902)12
Auch Menschen sind Blumen
Verstehen wir es nicht romantisch. Die hier von Rilke angedeutete Ähnlichkeit zwischen den Blättern und dem Menschen bedeutet zunächst eins: Auch der Mensch ist vergänglich.
Die Erfahrung, dass auch der Mensch hinfällig ist, haben wir noch nicht an uns selbst gemacht, und wir wissen gar nicht, ob wir diesen Augenblick, wenn es so weit ist, selbst ›erfahren‹ werden oder nicht. Was wir nicht mit Bestimmtheit wissen – das unterscheidet viele von uns von Rilke –, ist, ob Einer unser Fallen »in seinen Händen hält«.
Wenn wir Glück im Leben haben, erleben wir das Sterben und den Tod anderer Menschen. Denn man kann durch das Erleben des Todes, von dieser Grunderfahrung menschlicher Existenz, viel lernen, auch wenn es um den Tod eines anderen Menschen geht.
Meistens sterben die Menschen, wenn sie alt geworden sind: rostgelb, leider aber selten romantisch schön wie das Herbstlaub. Sie sind eher welk und faltig – eben alt, oft sogar krank: ein Sinnbild der Vergänglichkeit.
Es gibt eine Umkehrung der Symbolik des fallenden Laubs oder der vergänglichen Blumen. Wenn der Mensch stirbt, wird er in Blumen gebettet. Wenn sein Leichnam in die Erde gesenkt wird, schmücken Blumen sein Grab. Aber beides: Leichnam und Blumen werden welk, kompostieren gemeinsam und werden gemeinsam Erde. Erde zu Erde, Staub zu Staub.
Der Tod beginnt lange vor dem Tod und will nie enden.
Und es gibt viele Arten zu sterben. Jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod, und dieser ähnelt kaum dem Tod eines anderen. Man kann Todesarten typisieren: Tod durch Verkehrsunfälle, durch Erdbeben, Tod durch Mord und sonstige Gewalt, Tod durch Selbstmord. Nicht zu vergessen ist der Hungertod, der, wie man hört und liest, gar nicht so selten sein soll. Er soll besonders Kinder treffen. Es soll sogar vorgekommen sein, dass hungrige Menschen andere Menschen getötet und gegessen haben. Der Tod durch Durst soll noch grauenvoller sein. Dann der Tod durch Krankheit: Zu beobachten sind dem Tod geweihte kranke Menschen besonders in den Krankenhäuser, wo nicht nur Krankheiten und Ärzte zu Hause sind, sondern auch der Tod. In fortschrittlichen Ländern stirbt man vorzugsweise in den Krankenhäusern. Krankenhäuser sind zu gefährlichen Orten geworden.
Der Mensch muss nicht unbedingt krank sein, damit man ihm seine Vergänglichkeit anmerkt. Im Alter blättert der Mensch gleichwohl ab, durch die kahlen und kraftlosen Glieder schimmert das Skelett des Todes noch vor dem Tod hindurch.
Man stirbt auf jeden Fall. Man stirbt in jedem Alter, aber wenn man das Glück hat (ist das wirklich ein Glück? – vielleicht doch nicht für alle), ein hohes Alter zu erreichen, beginnt die Hinfälligkeit. Die Medizin versucht ständig, das Alter des Menschen weiter zu verlängern. Aber irgendwann sind wir doch alle dran.
Wenn man so weit ist, meinen oft sogar die Nahestehenden, dass man eigentlich (oder endlich) sterben könnte, dürfte, sollte oder müsste.
Wenn man unheilbar krank oder im weit fortgeschrittenen Alter ein Pflegefall oder gar eine Plage für die Nächsten geworden ist, dann sind oft auch die Nächsten froh – wir wollen ja ehrlich sein –, wenn man endlich stirbt. Könnten die Toten noch hören (und viele meinen, unser Geist lebt und hört doch weiter), dann würden sie die nahen Verwandten, denen sie zur Plage geworden waren, hören, wie sie erleichtert seufzen und sagen, der Tod hätte den Verstorbenen erlöst. Sie meinen natürlich, dass auch sie selbst – die noch Lebenden – erlöst wurden. Zu diesen Anlässen ist Feinfühligkeit angebracht.
Antoine de Saint-Exupéry erzählt vom Schicksal schwarzer Sklaven in Nordafrika. Frühere Könige, Stammesfürsten und Prinzen wurden von den Kolonialherren Ihrem Volk entrissen und als Sklaven verkauft. Der Sklave vergisst sein Land, sein Volk, seine Frau und seine Kinder. Er lässt alles hinter sich und lässt zu, dass die Vergangenheit für ihn stirbt. Er fügt sich seinem neuen Herrn, seinem Schicksal. Gegen die Sicherheit von Brot und Wasser wird er Sklave und verrichtet für seinen Herrn die Dienste, die dieser braucht. Dann geht auch sein ›zweites Leben‹ zu Ende:
»Eines Tages freilich lässt man ihn los. Wenn er nämlich so alt ist, dass Nahrung und Kleidung an ihn nur verschwendet wären, dann lässt man ihm völlige Freiheit.
Drei Tage lang bietet er sich vergeblich von Zelt zu Zelt rundum an. Täglich wird er schwächer und gegen Ende des dritten Tages legt er sich ergebungsvoll in den Sand, um nie wieder aufzustehen. Ich habe bei Juby Menschen nackt im Sand sterben sehen. Die Einheimischen gingen achtlos, aber ohne Grausamkeit an ihrem langwährenden Todeskampf vorbei. Ihre Kinder spielten dicht neben dem düsteren Wrack und liefen jeden Morgen nachzusehen, ob es sich noch bewegte. Aber sie verhöhnten den alten Diener nicht. Es war ja die natürliche Weltordnung, als ob man dem Sklaven sagte: Du hast brav gearbeitet, nun darfst du dich ausruhen; geh zu Bett! Darum spürte der Mann, der dort lag, nur den Hunger und nicht die Ungerechtigkeit der Menschen.
Der Hunger aber ist nur ein Schwindelgefühl, kein großes Leiden. Nur Ungerechtigkeit vermag Schmerzen zuzufügen. Dreißig Jahre Arbeit und dann das Recht auf Schlaf und ein Fleckchen Erde. Kein Wort der Klage hörte ich bei dem Ersten, den ich so traf. Gegen wen auch hätte er klagen sollen? Ich spürte, dass er im Grunde dumpf einverstanden war mit dem, was ihm geschah.«13
Es gibt viele Arten zu sterben, unbemerkt und ohne Aufsehen zu erregen.
Den Tod im Alltag nimmt man inzwischen mit Achselzucken zur Kenntnis. Menschen sterben in ihrer Wohnung allein und anonym, wie sie gelebt haben, und werden erst Tage später entdeckt. Die Nachbarn kennen den Toten manchmal gar nicht. Wie können sie bedauern, dass er tot ist. Verwandte hatte er keine, oder wenn schon, er ist für sie längst vor seinem Tod tot gewesen.
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