Die andere Möglichkeit wäre, den Sterbeprozess, die verschiedenen Arten zu sterben und den Totenkult der unterschiedlichen Kulturen darzustellen. Es stirbt die Materie. Es stirbt der Einzelne, es stirbt alles in der Welt. Es sind zwar beschreibbare Prozesse und Phänomene. Um den natürlichen Aspekt des Sterbevorgangs zu beschreiben, müsste man sich aber in Biologie, Physik, Astrophysik und Kosmologie auskennen. Das Sterben betrifft auch unseren ›Geist‹, unabhängig davon, ob es ihn gibt oder nicht, ob er mit dem Körper stirbt oder nicht; hier müsste man sich auch in Psychologie, Philosophie und Neurologie auskennen. Dazu ist ein Menschenleben nicht immer ausreichend. Die Welt ist groß, der Mensch ist klein.
Lieber widme ich mich daher einer existentiellen Seite des Themas: Der Tod berührt uns, und diese Berührung, die zu einem bestimmten Augenblick eine schicksalhafte wird, macht uns betroffen und zwar nicht erst, wenn der Tod uns holt, sondern auch dann, wenn wir nur an ihn denken und seinen Atem im Nacken spüren.
Mein Buch über die Gottesbilder konnte ich mit leichter, nicht selten ironischer Feder schreiben. Nichts läge also näher, als auch über den Tod und unsere Vorstellungen von ihm mit dem gleichen Stil zu schreiben, denn wir Menschen sind auch bei der Darstellung des Todes sehr fantasiebegabt und entwerfen tausend Bilder, um uns ihn vorzustellen.
Die ironische leichte Feder will hier aber nicht richtig gehorchen. Es wird in den nächsten Seiten sicherlich nicht an der einen oder anderen ironischen Bemerkung fehlen. Ironie ist auch eine Art, sich mit der Wirklichkeit zu versöhnen, und dabei hilft uns das Bewusstsein, dass wir über die Zeit nach unserem Tod genauso wenig wissen wie beim Thema Gott.
Aber das Thema Tod scheint mir – die Götter mögen mir verzeihen – ernster als das Thema Gott. Auf jeden Fall liegt mir der Tod näher als alle Götter dieser Erde. Er begleitet mich seit Beginn meiner Tage und bedrängt mich unaufhörlich.
Viele meinen, der Tod habe selbstverständlich mit Gott zu tun, denn nach dem Tod würden wir direkt mit ihm zusammenkommen. Aber im Ernst: Wenn es einen Gott gibt, dann haben wir mit ihm bereits im Leben zu tun und nicht erst nach dem Tod.
Die Bibel redet nicht selten von der Gottesfurcht. Der Ausdruck wird unterschiedlich interpretiert: mal als Angst vor Gott, mal als Ehrfurcht vor ihm. Timor mortis, die Angst vor dem Tod, ist anders geartet und überträgt sich auf Körper und Geist: Das Herz verkrampft sich, die Muskeln beginnen zu zittern. Der timor mortis wird zu einem tremor mortis, dem Zittern vor dem Tod.
Es gibt seltene aber doch entscheidende Augenblicke im Leben, in denen sich das Schicksal eines Menschen entscheidet. Man befindet sich an einer Weiche, es wird einem bewusst, dass die nächsten Augenblicke auch die letzten sein können. Etwa wenn der Anästhesist vor einer Operation mit fraglichem Ausgang sich mit der Betäubungsspritze nähert, oder wenn die Giftspritze an den Arm des zum Tode Verurteilten angesetzt wird. Das Zittern des Patienten oder des zum Tode Verurteilten ist eine ganz normale Reaktion. Oder denken wir an das Zittern eines Tieres, das spürt, dass es von einem anderen Tier gefressen, von einem Menschen getötet wird. Oder an die schreienden Tiere, die zum Schlachthof gefahren werden. Zum Tode verdammte Tiere zittern und schreien, wenn sie das Blut von bereits geschlachteten Schicksalsbrüdern riechen, auch wenn sie ›menschenwürdig‹ und zum Wohle der Menschheit geschlachtet werden.
Die Angst zu sterben ist eine natürliche Reaktion auf die Bedrohung des bevorstehenden Todes. Eine todernste Sache. Und darüber Witze zu reißen, ist unangebracht.
Die Angst vor dem Tod braucht keine Gründe. Der einzige Grund ist das bevorstehende Ende der eigenen Existenz.
Man könnte natürlich differenzieren. Nicht alle sollen Angst vor dem Sterben haben. Einige – wie Abraham – sind lebenssatt und zufrieden gestorben.
Man glaubt auch statistisch feststellen zu können, dass gläubige Menschen ruhiger sterben als ungläubige. Sie sind sicher oder hoffen ganz fest, nach ihrem Tod Gott zu begegnen und so im ewigen Licht zu wandeln. Sie verstehen den Tod nicht als Ende, sondern als Neuanfang, als Tor in die glückselige Ewigkeit.
Und man wird gern erinnert an die Märtyrer der Antike, die für ihren Glauben singend aufs Leben verzichteten. Man verweist gar auf die modernen Märtyrer, die sich in die Luft sprengen, sicher, dass diese Sprengung sie ins Paradies versetzt.
Man weiß, dass tiefe Überzeugungen auch im Augenblick des Todes nicht ohne Wirkung bleiben. Sie können helfen – auch im Augenblick des Todes. Wie würden sich dieselben Menschen verhalten, wenn sie nicht mehr sicher wären, dass nach dem Tod ein Gott auf sie wartet?
Mir ist der Angstschweiß Jesu vor dem Tod immer sehr glaubwürdig vorgekommen. Er, von dem die Christen meinen, er sei der Sohn Gottes, bittet Gott, ihm diesen Kelch zu ersparen.
Man kann aber auch als Nichtgläubiger würdig sterben. Der Augenblick des Todes verlangt von uns Würde. Gerne sterben wohl die Wenigsten, außer vielleicht diejenigen, denen das Leben zur Last geworden ist, die am Leben verzweifeln, oder Menschen, auf die eigene Überzeugungen, auch religiöser Art, wie Drogen wirken, sodass sie wenigstens scheinbar die Angst vor dem Tod überwinden.
Alle versuchen den Augenblick des Todes zu verschieben, alle entwickeln eine Technik, um sich vor der Todesgefahr zu schützen.
Ein mir sympathischer Pfarrer nimmt in seinem Buch über das Thema Tod8 die Inschrift des Grabsteins von Erich Kästner (»Hier ruhen meine Gebeine, ich wünscht’, es wären deine«) zum Ausgangpunkt seiner Überlegungen: Er schreibt: »Erich Kästner hat sich diesen Spruch für seinen Grabstein gewünscht. Mag sterben, wer will, Kästner selbst will es nicht, obwohl er es muss! Seine Grabinschrift klingt anders als die Kaltschnäuzigkeit vieler Zeitgenossen. Sie behaupten: Na ja, wenn’s vorbei ist, ist es vorbei. Nach dem Tod gibt’s sowieso nichts mehr. Ein Leben danach, ich glaube nicht daran. Auf keinen Fall an ihn denken, einfach drauflos leben! Oft halte ich diese Reden für gespielt. Ich vermute, hinter den Sprüchen verbirgt sich schreckliche Angst vor dem eigenen Sterben. Sie wird durch solch schnodderiges Reden verdrängt. Ob Angst oder nicht, ich lasse mir meine Sehnsucht nach dem Leben nicht austreiben. [...] Ich will leben, ja, wenn es geht, ewig leben.«
Er will leben, und das ist sein Recht. Warum unterstellt er aber denjenigen, die an ein Leben danach nicht glauben (können), dass sie nicht (ewig) leben wollen? Warum sollten sie nicht? Vielleicht möchten sie doch leben und sogar ewig, wenn es möglich wäre. Und der Vorwurf der Kaltschnäuzigkeit gegen die Menschen, die nicht glauben können, und die Annahme, diese Menschen hätten ja doch nur Angst vor dem Ende, macht nur traurig.
Wir alle wissen nicht, was danach kommt: die Prediger und Missionare, die Glaubensprofis aller Welt, so wenig wie die, die nicht professionell glauben können. Es ist wie bei der Frage nach Gott. Keiner kennt ihn. Wenn man nach ihm sucht, kommt man zu unterschiedlichen Annahmen (Glaubenshaltungen), auch zum Unglauben oder zum Agnostizismus. Solchen Menschen wird oft Überheblichkeit, manchmal auch Sehnsucht nach dem Glauben unterstellt. Es ist für Gläubige schwer erträglich, dass andere Menschen ehrlicherweise anders fühlen, denken, glauben und sich verhalten können.
Am Ende auch dieses Buches wird das Eingeständnis stehen, dass ich nicht weiß, was uns nach dem Tod erwartet. Diese Ignoranz teile ich mit vielen anderen, die wohl nach langem Nachdenken zu diesem Schluss kommen.
Dieses Buch ist für alle gedacht, die nach dem Tod mit großem Ernst fragen. Wir machen uns zusammen auf den Weg. Manchmal ist der Weg schöner und interessanter als das Ziel. So verhält es sich oft bei wichtigen Fragen, auf jeden Fall bei der Frage nach Gott und nach dem Tod und seinem Ausgang.
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