Im Gedicht In der Provinz 3 von Durs Grünbein, das das Schicksal eines toten Maulwurfs am Rande eines Weizenfeldes schildert, werden Aasfresser und totes Fleisch als Schicksalsgemeinschaft geschildert:
Die Stille um einen toten Maulwurf
Am Rand eines Weizenfeldes, sie trügt.
Unter ihm sammeln sich Käfer, bewaffnete Kräfte
In schwarzer Uniform. Über ihn kreist,
Bevor er abdreht, die Flügel zerzaust, ein Habicht.
Ameisen graben, Kommandos im Eilmarsch,
Am Rückgrat entlang eine Rinne. Im Innern
Laufen die Drähte heiß, wimmeln nervöse Maden
An der Börse der Eingeweide. Vom Bauchfell
Tragen fliegende Händler (oder sind es Reporter)
Die Botschaft in alle vier Winde: ein Aas, ein Aas!
Nur eine Grille, einen Sprung weit entfernt,
Liest in den Wolkenzügen und sonnt sich
Schweigend, ein stoischer Philosoph.14
Mors tua vita mea. Dein Tod ist mein Leben
Neulich hörte ich es im Rundfunk, und dann vertiefte ich diese Auskunft bei SPIEGEL ONLINE: Es geht um die ›kleinste Fliege der Welt‹, die Euryplatea nanaknihali, die ihre Larven in den Kopf von Ameisen einsetzt. Wenn die Larve zu einer jungen Fliege wird, bricht sie den Kopf der Ameise auf, lässt die geköpfte Ameise liegen und fliegt davon. Neues Leben aus einer Leiche. Horrorfilm oder ein visionäres, spirituelles Bild einer Seele, die auf dem toten Körper gen Himmel eilt? Beides. Leben entwickelt sich aus dem Tod. Mors tua vita mea.
Dieser mittelalterliche Spruch heißt übersetzt »dein Tod ist mein Leben« und wird zunächst auf den zwischenmenschlichen Bereich angewendet. Das bedeutet gewöhnlich, dass die Niederlage des Konkurrenten meinen Sieg bedeutet. In dieser Richtung geht auch die Einschätzung der menschlichen ›Kultur‹ durch Hobbes: Homo homini lupus. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
Wir wollen den Spruch mors tua vita mea aber zunächst rein buchstäblich verstehen. Der Tod eines irdischen Wesens bedeutet für ein anderes Wesen ein neues Leben oder wenigstens die Verlängerung seines eigenen Lebens für eine kurze Weile.
Das gilt für alle Bereiche der Biologie, zwischen Pflanzen und Pflanzen, zwischen Pflanzen und Tieren, zwischen Tieren und Tieren und zwischen Tieren und Menschen. Leider gilt das manchmal auch unter den Menschen.
Aasfresser und Lebendfresser
Die feine Hochsprache unterscheidet säuberlich zwischen ›Totenfressern‹ und ›Lebendfressern‹. Solche sind etwa Wildtiere, die ihre Beute jagen, erlegen und warm oder frisch erlegt fressen.
Aasfresser sind die Tiere, die sich vom Fleisch toter Tiere ernähren, die nicht unbedingt von ihnen selbst erlegt worden sind und eventuell Tage davor gestorben sind. Die Tiere müssen auch nicht durch Unfall oder Jagd gestorben sein. Auch Tiere, die durch einen natürlichen Tod gestorben und liegengeblieben sind, werden von anderen Tieren vertilgt. Aasfresser sind also Totenfresser.
Diese saubere Differenzierung ist zum Teil künstlich und dient der Befriedigung des menschlichen Gefühls. Sie macht einige Tiere schlechter als andere. Zum Beispiel die Hyänen und die Schakale werden als die typischen Aasfresser angesehen und als solche unter den Tieren als unsauber und feige verpönt. Jagdtiere werden hingegen als mutig, kämpferisch, als Vorbild und Symbol für menschliche, besonders männliche Tugenden wie Mut und Stärke angesehen.
Die Unterscheidung selbst ist aber nicht ganz sauber, denn auch Jagdtiere fressen ihre Beute nicht immer und nicht ganz unmittelbar, nachdem sie sie erlegt haben. Sie könnten auch nicht gleich ein großes Tier ganz vertilgen. Viele Jagdtiere halten totes Fleisch auf Vorrat und fressen es in den darauffolgenden Tagen.
Und natürlich fressen Jagdtiere auch gefundenes totes Fleisch, sei es, dass die Tiere eines natürlichen Todes gestorben sind, sei es, dass sie von anderen Tieren oder von Menschen erlegt wurden. Es ist auch viel bequemer als selbst zu jagen. Welches Tier jagt stundenlang gern, wenn es bereits erlegtes Fleisch findet? Im Zoo frisst auch der Tiger wie ein zivilisierter Mensch: Man gibt ihm zurechtgeschnittene Schnitzel, und er weiß auf die Dauer nicht mehr, wo das Fleisch, das er frisst, herkommt. Das muss er auch nicht wissen. Wir Menschen wollen es auch nicht immer genau wissen.
Eigentlich sind alle fleischfressenden Tiere Totenfresser, egal ob das Aas alt oder frisch ist. Tot ist tot.
Es sei denn, das Tier frisst die Beute, während sie noch lebt. Es ist meistens schwierig festzustellen, zu welchem Zeitpunkt die Beute stirbt. Boas erwürgen die Beute und warten, bis sie sich nicht mehr bewegen, bevor sie sie verschlingen.
Interessant sind diesbezüglich auch die Vögel, die lebende Regenwürmer zu der Brut bringen. Im Flug kann man sehen, dass sich die Regenwürmer im Schnabel der Vögel noch winden, aber dann werden sie in den Schnabel der Brut gereicht, manchmal erst, wenn diese schnabelgerecht aufbereitet worden sind.
Wir wollen nicht allzu differenziert denken. Das bringt dem toten Fleisch sowieso nichts mehr. Wir können jedoch pauschal sagen, dass alle fleischfressenden Tiere Nekrophagen, Totenfresser, – übertreiben wir ruhig – Aasfresser sind. Und sie können nicht nur frisches Fleisch fressen, sondern auch Fleisch, das – ginge man nach der feinen menschlichen Nase – bereits zum Himmel stinkt.
Der zivilisierte Aasfresser
Ist der Mensch auch ein Aasfresser? Die Frage ist mit einem klarem Ja zu beantworten, wenn man unter ›Aas‹ nicht unbedingt vergammeltes Fleisch versteht (aber auch dieses Fleisch essen die Menschen, zumeist, ohne es zu wissen), sondern totes Fleisch. Denn auch der Mensch ist ein Tier, oft ein fleischfressendes. Er war früher sogar ein Jagdtier. Diese Gewohnheit hat der Mensch keinesfalls aufgegeben. Manche jagen heute zum Sport, um den alten Trieb des Clanmenschen zu befriedigen. Aber der Mensch jagt auch heute, um die eigene Nahrung abzusichern. Er jagt Vögel in der Luft, Fische im Meer und Tiere, die auf dem Boden leben. Die meisten Menschen brauchen heute aber nicht mehr selbst zu jagen. Der Mensch ist inzwischen zivilisiert. Er ist kein Wilderer mehr, er ist schon seit langem fähig, Haustiere zu halten, sie zu mästen und dann zu töten, um deren Fleisch zu essen.
Wenn man aber ›vom Menschen‹ redet, so flüchtet man sich in eine grobe Verallgemeinerung. Den Menschen gibt es nicht. Es gibt zurzeit sieben Milliarden Menschen, von denen die meisten Fleisch essen wollen. Und sie jagen längst nicht alle. Die Menschen sind nicht nur zivilisiert, sondern auch organisiert. Die allermeisten essen Fleisch, das andere getötet und zerlegt und mundgerecht geschnitten haben.
Es gibt jagende Menschen, Menschen, die das tote Tier zerlegen und das tote Fleisch lagern. Der Mensch kann auch Fleisch essen, das monatelang gelagert wurde. Das Fleisch kann so lange gelagert werden, dass die Menschen sich gar nicht erinnern würden, wann es geschlachtet wurde, würde kein Gesetz dafür sorgen, dass das Datum auf dem Packzettel vermerkt wird.
Der Mensch ist also selbstverständlich ein Aasfresser, aber ein zivilisierter.
Global genommen essen die Menschen jede Sorte von Tierfleisch: von allerlei Fischen, sogar von Meeressäugern, allerlei Tieren auf der Erde, allerlei Vogelarten.
Nicht jeder Mensch und nicht jedes Volk isst jede Fleischsorte. Schon aus religiösen Gründen nicht. Die Hindus essen die Kuh nicht, weil sie heilig ist, die Juden und die Muslime essen kein Schweinefleisch, weil Jahwe bzw. Allah es verboten hat. Wir in Europa essen meistens kein Hundefleisch, was in China als Delikatesse gilt. Kultur und Religion beeinflussen auch den Appetit und die Neigung, die eine oder andere Fleischsorte zu essen.
Der Hund, der in chinesischen Restaurants gerne serviert wird, ist etwa bei uns in Europa ein so treuer Freund, dass wir für ihn aber wirklich alles tun – sogar seinen Kot sammeln wir unterwegs. Sein Fleisch können wir natürlich, aus reiner Anhänglichkeit, nicht essen. Wenn ein Hund sich von uns verabschiedet und in das Reich der Toten hinüber segelt, wird er nicht selten wie ein guter Mensch und naher Verwandter mit allen zeremoniellen Würden beerdigt.
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