Wie Dr. Frei-Sulzer vor Gericht weiter ausführte, hatte er das winzige Haar unter dem von ihm entwickelten Vergleichsmikroskop eingehend untersucht und war daher zu dem aufschlussreichen Ergebnis gelangt:
„Dieses Haar war weder ausgefallen noch ausgerissen, sondern einwandfrei abgequetscht worden – und zwar durch Druck an der Hautansatzstelle.
Natürlich gingen wir auch der Frage nach, ob dieses Haar vielleicht schon von früher her im Behälter unterhalb der Vordersitze gewesen und erst später durch einen Luftzug oder einen anderen mechanischen Vorgang in die Blutkruste gelangt sein könnte. In diesem Fall hätten sich nämlich damals Unreinheiten aller Art an der Oberfläche angesammelt. Da wir das Haar aber völlig staubfrei aus der Substanz entfernt hatten, schied diese Möglichkeit aus. Damit steht fest: Das Haar ist unmittelbar nach der Abquetschung, sozusagen körperfrisch, in das Blut geraten, das dann später austrocknete und die Kruste bildete.“
Zusammen mit dem Haar aus der Blutkruste legte nun der Sachverständige dem Gericht andere Haare Eichenwalds vor. Die Wiener Kriminalpolizei hatte sie in der Wohnung des Verschwundenen auf verschiedenen Kleidungsstücken gefunden und nach Zürich gesandt. Wie jedermann sich nun überzeugen konnte, gab es dabei nicht den geringsten Zweifel, dass das Haar aus der Blutkruste von dem Wiener Uhrenhändler stammte. Außer der völligen Übereinstimmung selbst der kleinsten Unterscheidungsmerkmale waren die Vergleichshaare und das aus der Kruste gelöste Einzelhaar mit demselben Farbstoff getönt, den Eichenwald zu benutzen pflegte.
Von wem aber rührte das Blut her?
Zu dieser Frage nahm nun ein anderer Sachverständiger vor Gericht Stellung. Mit den neuesten wissenschaftlichen Methoden und Apparaturen hatte der Oberarzt am Gerichtsmedizinischen Institut der Universität Zürich die Blutkruste untersucht. Bei diesen eingehenden Bluttesten ließ sich zwar das Alter der eingetrockneten Substanz, die zweifellos von Menschenblut herrührte, nicht mehr genau ermitteln. Sie war jedoch, wie er betonte, „mindestens mehrere Monate alt, wahrscheinlich noch wesentlich älter“. Da mit dem Ablauf der Zeit die Differenzierungssubstanzen zurückgehen, ließ sich die Blutgruppe nur schwer bestimmen. Nicht mit absoluter Gewissheit, jedoch mit ausreichender Wahrscheinlichkeit handelte es sich um die Blutgruppe 0, der auch Eichenwald angehört hatte. Von Walter Stützle jedenfalls konnte die Blutkruste nicht herrühren, da er nachweislich die Blutgruppe A besessen hatte.
Zusammen mit anderen schwerwiegenden Indizien lieferte also ein einziges Haar den ausschlaggebenden Beweis für die Schuld des Angeklagten: nämlich das Härchen Eichenwalds in einer Blutkruste unterhalb der Vordersitze des Wagens, den Weber zwei Tage vor dem Verschwinden des Wiener Uhrenhändlers gemietet und tags darauf mit allen erdenklichen Mitteln von Blutspuren zu säubern versucht hatte. Das Gericht verurteilte den Angeklagten zu lebenslänglichem Zuchthaus.
Verbrechen sind nicht immer und überall Verbrechen
Wie der gerade geschilderte Kriminalfall lehrt, spricht die Spur ihre eigene Sprache. Die vorerst unverstandene Spur zu entschlüsseln ist eine allgemeine kriminalistische Aufgabe. Wird eine Straftat begangen, so entstehen in der Regel Spuren. Eine „Spur“ kann schlechthin alles sein, winzig klein oder groß, lebend oder tot. Das Spurenspektrum ist unermesslich. Sogar ein Erpressungsversuch über das Telefon hinterlässt eine Spur, nämlich die Stimme des Erpressers. Man kann sie konservieren und stimmspektrographisch auswerten.
Die Spur ist der stille Zeuge der Tat. Sie trägt mit dazu bei, den Tatablauf zu entschlüsseln. Nur wenige Spuren führen direkt zum Täter, aber viele weisen in seine Richtung. Der Spur muss und kann nicht immer alles erbringen. Gleichwohl hat die geringste Spur, die den Tathergang zu enträtseln hilft oder in Richtung Täter weist, ihren Wert.
Durch den Einsatz der Naturwissenschaften und deren erstaunliche Fortschritte – sowohl was die Erkenntnisse als auch die Methoden zur genauesten Erfassung kleinster Substanzmengen betrifft – hat der Sachbeweis und mit ihm die Spur in den letzten Jahrzehnten außerordentlich an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung hält immer noch an. In vielen Fällen vermag der Sachbeweis den Verdächtigen zu überführen oder auch vom Tatverdacht zu entlasten. Zusätzlich lässt sich durch diesen Beweis die Zuverlässigkeit von Geständnissen und Zeugenaussagen überprüfen.
Wie berichtet hat sich der Fall Weber in den fünfziger Jahren zugetragen. Jahrzehnte zuvor hätte man den Verdächtigen wohl kaum mit dieser naturwissenschaftlichen Exaktheit überführen können – Jahrzehnte danach sind die Instrumente und Methoden der Kriminalistik noch viel weiter entwickelt und wirksamer geworden.
Von der Verbrechensbekämpfung früherer Zeiten bis in unsere Tage war es ein weiter Weg. Seit ihren Anfängen kennt die menschliche Gesellschaft Handlungen, die wir „Verbrechen“ nennen. Derartige Verhaltensweisen stehen auch seit langem im allgemeinen Erkenntnisinteresse, wie wir dies beispielsweise dem Codex Hammurabi, dem Alten Testament oder der antiken Tragödie entnehmen können. Dabei galten und gelten Verbrechen nicht immer und überall als Verbrechen. Doch in unserer Zeit scheinen Rechtsnorm und Rechtsbruch als besonders fragwürdig empfunden zu werden. Erst die moderne Industriegesellschaft empfindet die Kriminalität als Herausforderung, ja als „die Frage des Jahrhunderts“.
Andere Zeiten – andere Verbrechen. Diebe, Räuber, Mörder, wie wir sie aus klassischen Kriminalromanen kennen, werden von Wirtschaftsverbrechern im „weißen Kragen“ und hoch organisierten, in Banden auftretenden Berufsverbrechern abgelöst. Einige Banden planen außergewöhnlich sorgfältig, handeln geradezu als kommerzielle Unternehmen, sind international verzweigt, versuchen ein Minimum an Risiko mit einem Maximum an Gewinn zu verbinden. Dabei werden Spezialisten – Killer, Techniker, Anwälte und Wissenschaftler – eingespannt.
Geschichte und Völkerkunde lehren, dass die Vorstellungen darüber, was denn überhaupt kriminell sei, höchst unterschiedlich sind. Was in einem Land und zu einer Zeit als Verbrechen galt, ging anderswo und zu anderer Zeit straffrei aus – sogar Raub und Mord. Ein bestimmtes Verhalten ist nicht von Natur aus oder durch Anlage kriminell, vielmehr werden die Normen des Strafbaren durch die jeweilige Gesellschaft geschaffen. Unser Strafrecht ist am Eigentum und seiner Sicherung ausgerichtet. Andere sozialschädliche Handlungen bestraft es dagegen gar nicht oder nur ungenügend, wie beispielweise Umweltverseuchung, Wucher und Spekulation.
Das Bild der Kriminalität wird durch die Kriminalstatistik verfälscht, da ihr, grob wie sie ist, jede Differenzierung fehlt. Unter Eigentumsdelikt fällt danach das Stehlen einer Schallplatte ebenso wie der Diebstahl eines Diadems. Indem die Statistik Straftaten schlicht über den gleichen Leisten schlägt, verzerrt sie die Größenordnungen.
Jahr für Jahr bleiben Millionen Fälle unbekannt, weitaus mehr als bekannt werden. Warum Straftaten nicht gemeldet werden, dafür gibt es zahllose Gründe: aus Unwissen, Furcht vor Vergeltung, Scham, Scheu vor der Öffentlichkeit, Misstrauen gegenüber der Polizei, Gleichgültigkeit, Trägheit, weil man keine Umstände haben will, sowie vieles andere mehr. Gleich massenweise und formularmäßig erstatten Großfirmen Betrugsanzeigen – alte, kranke, hilflose Leute dagegen so gut wie keine. Verkäuferinnen und Detektive in Warenhäusern ertappen täglich Tausende von meist kleinen Dieben, deren Zahl sich in der Statistik niederschlägt und die Aufklärungsquote der Polizei aufbläht.
Schon wiederholt ist bisher von Kriminalistik und verwandten Begriffen die Rede gewesen. Da sich das gesamte Buch damit befasst, sollen hier die wichtigsten Bezeichnungen kurz erläutert werden.
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