Dieser Fall ist zwar nur erdacht, aber durchaus möglich. Erst die Umstellung der Fahndung Anfang der siebziger Jahre auf die elektronische Datenverarbeitung (EDV) machte diese Geschwindigkeit möglich. Vorher verstrichen Wochen zwischen Eingabe der Fahndungsdaten und ihrer Übermittlung an alle Polizeidienststellen und Grenzübergänge. Die elektronische Datenverarbeitung verringert den Vorsprung des Gegners ganz erheblich. Selbst eine Blitzfahndung, die ohnehin nur in Ausnahmefällen in Gang gesetzt wird, dauerte ohne Elektronik drei bis vier Stunden.
Das Zusammenspiel moderner kriminalwissenschaftlicher Methoden, Ermittlungstechnik, Fahndung und der elektronischen Datenverarbeitung „macht das Verbrechen, das mit den Methoden des 19. Jahrhunderts arbeitet, zunehmend chancenlos“, meinte vor Jahren der Präsident des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden. Nach seiner Ansicht werden die heutigen Mittel der Verbrechensbekämpfung es ermöglichen, die Kriminalität traditionellen Typs völlig in den Griff zu bekommen – bis auf einen unausrottbaren Bodensatz.“ Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass auch die Kriminellen bei der Ausführung ihrer Straftaten nicht im vorigen Jahrhundert stehen geblieben, sondern in zunehmendem Maße gleichfalls mit der Zeit gegangen sind und sich moderner Techniken bedienen. Als ein Beispiel von vielen sei hier nur die Computerkriminalität erwähnt. „Die Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient“, schrieb einst der französische Biologe Lacassagne. Danach „verdienen“ wir heutzutage die „Weiße-Kragen-Verbrecher“ sowie die internationalen Banden von Berufskriminellen und Terroristen. Es könnte jedoch noch viel ärger kommen, wie der amerikanische Politologe Zbigniew Brzezinski schon vor einem Jahrzehnt warnend erklärt hat: Gefahr drohe den modernen Industriegesellschaften nicht mehr von Kriegen, sondern von wachsender Anarchie, von den Privatkriegen einzelner Gruppen. Brzezinski befürchtet Verbrechen, durch Gruppen hoch intelligenter Menschen geplant, die sich, von keinem Gewissen gehemmt, aller, aber auch aller Mittel bedienen, die Wissenschaft und Technik bis heute erdacht haben.
Doch kehren wir von den Kriminellen zu den Kriminalisten zurück, von den modernen Verbrechensmethoden zur Verbrechensbekämpfung mit den neuesten naturwissenschaftlichen und technischen Hilfsmitteln. Heutzutage ist die Kriminaltechnik imstande, „den stummen Tatort zum Sprechen zu bringen“, und zwar in einem Umfang, den Sherlock Holmes oder Kommissar Maigret, als einer seiner zahlreichen berühmten Nachfolger, sich nicht hätten träumen lassen. Dafür sorgen die Großgeräte, an denen die Wissenschaftler, die sogenannten Detektive im weißen Kittel, in den physikalischen, chemischen und biologischen Labors der Kriminaltechnik arbeiten. Das Raster-Elektronenmikroskop etwa vergrößert bis zum Fünfzigtausendfachen und entwickelt außerdem eine ungewöhnliche, nahezu dreidimensionale Tiefenschärfe. Ultraviolette Spektrographie, Massenspektrometrie, Gaschromatographie können noch ein Millionstel Gramm eines Stoffrückstandes untersuchen. Ein in Wiesbaden entwickeltes System lässt anhand der Schmauchspuren auf den Zentimeter genau die Entfernung ermitteln, aus der ein Schuss abgefeuert wurde. Auch kann man beispielsweise an einem Handschuh den Abrieb eines Goldringes feststellen.
Jede Waffe hinterlässt eine individuelle Spur. Aus der Oberflächenstruktur winziger Lacksplitter lesen Kriminaltechniker das „Bild der Verwitterung“ ab, der ein Auto häufig ausgesetzt ist: Steht es im Schwarzwald oder in Stuttgart? In welchem Winkel hielt der Bauer – der selbst ungerührt von einem Unfall spricht – die Schrotflinte, mit der er seine Nachbarin erschoss? Mit welchen Werkzeugen wurde der Bombenschalter abgeschnitten? Aus welchem Land stammt das Haschisch?
Alle diese Fragen und noch viele andere kann die moderne Kriminaltechnik beantworten.
Neben Physik, Chemie und Biologie tritt die Daktyloskopie, deren Nutzen dank elektronischer Auswertung vervielfacht wird. Noch vor wenigen Jahren brauchten die Kriminalisten alle zehn Fingerabdrücke zur Identifizierung. Nach einem neuen Verfahren wird hingegen jeder Fingerabdruck einzeln für sich mithilfe einer Formel von rund hundert Zeichen beschrieben, das heißt in der Computersprache digitalisiert. Anhand nur eines einzigen Fingerabdrucks lässt sich so in Sekundenschnelle aus der Datenbank in Wiesbaden der Gesuchte aussondern. Gleichfalls nur Sekunden dauert auch die Überspielung vom Tatort auf den Bildschirm des Bundeskriminalamts.
Verbrechen ohne Spur gibt es nicht. „Da müsste schon ein Täter einem Engel gleich über den Tatort schweben“, wie es einmal der Präsident des Bundeskriminalamts ausgedrückt hat. Das gleiche schrieb auch der bekannte Lyoner Kriminalist Locard: „Es gibt keinen Rechtsbrecher, so gewieft er auch sein mag, der nicht unfreiwillige Spuren seines Auftretens zurücklässt. Diese Zeugen sind die Einzigen, die niemals lügen. Es sind Ankläger, die nicht zu schlagen sind.“
Wenn also Spuren nicht lügen, so schließt dies jedoch nicht aus, dass sie falsch gewertet werden. Der Fehler liegt dann aber nicht an der Spur, sondern am Menschen. Die Kriminaltechnik ist heute imstande, die verborgensten Spuren aufzudecken. Oder richtiger: Sie wäre imstande, gäbe es nicht menschliche Unzulänglichkeit.
„Es ist in der Organisation der Polizei begründet, dass nach Entdeckung eines schweren Verbrechens meistens nicht zuerst die Kriminalpolizei am Tatort erscheint, sondern Angehörige der uniformierten Polizei eintreffen. Ihre Hauptaufgabe ist die Sicherung des Tatortes vor Veränderungen durch Eingriffe Unberufener. Das liest sich in den Dienstanweisungen viel leichter, als es manchmal getan ist. Ein alter und erfahrener Berliner Kriminalbeamter, der jahrelang von Tatort zu Tatort eilte und sich als Mordkommissar einen Namen gemacht hatte, nannte einmal aus eigener Erfahrung mit Berliner Humor die Revierbeamten `die Kommission zur Vernichtung des objektiven Tatbestandes´.“
Aus diesen Worten des namhaften Fachautors und Kriminaldirektors F. Meixner in seiner zweibändigen „Kriminal-Taktik“ geht klar hervor, wie wichtig die Sicherung des Tatorts ist. Denn für den wissenschaftlich geschulten Kriminalisten ist er die ergiebigste Fundquelle der Spuren, die möglicherweise nicht nur zum Täter führen, sondern auch die Beweise seiner Schuld liefern. Unter Tatort ist nicht nur der eigentliche Schauplatz zu verstehen, an dem das Verbrechen begangen wurde, sondern alle mit ihm zusammenhängenden und verbundenen Räume – wie Flur, Zugänge, Nebengelasse -, da der Täter an allen diesen Stellen Spuren hinterlassen haben kann. Abdrücke der Schuhsohlen im Flur sind wesentlich aufschlussreicher als entferntere, da mit jedem Schritt etwa daran haftende Substanz abfällt. Auch ist es wahrscheinlich, dass der Verbrecher den höchsten Wachsamkeitsgrad am Tatort entwickelt, seine Aufmerksamkeit aber allmählich nachlässt.
Bis zum Anlauf der kriminaltechnischen Arbeiten sollte der Tatort daher ein Tabu sein, das erst mit dem Fortschreiten der einzelnen Untersuchungen abgebaut wird. Nicht immer kann auch der nähere oder gar der weitere Zugang zum Schauplatz des Verbrechens so weit und so wirksam abgeriegelt werden, dass von den dort feststellbaren „stummen Zeugen“ auswertbare „Aussagen“ zu erhalten sind.
„Fehlerquelle Nummer 1 ist der Beamte am Tatort“, wie ein Kriminologe in einem Gespräch erklärte. Er kann Spuren verwischen, zerstören, übersehen, unsachgemäß behandeln, durch Unaufmerksamkeit verändern.
„Einer von uns müsste immer dabei sein“, wünschen sich deshalb die Kriminaltechniker.
„Das erste, was wir in unserer Ausbildungszeit lernen“, erinnerte sich ein Kriminalbeamter, „wenn wir einen Tatort betreten: zuerst einmal Hände in die Hosentaschen.“
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