Auch Walter Stützle, der vor dem 16. Oktober mittellos war, besaß danach erhebliche Geldbeträge. Er schickte seiner von ihm geschiedenen Frau längst fällige Unterhaltsbeträge und deponierte bei einem Züricher Rechtsanwalt 25.000 Franken in bar. Die wichtigsten Zahlungen Webers und Stützles erfolgten in Tausender-Banknoten. Auch das Bargeld, das Eichenwald abgehoben hatte, war in Tausender-Banknoten ausbezahlt worden.
Webers sieben frühere Verurteilungen ließen stets dieselbe Taktik der Verdunkelung erkennen, die er im Mordprozess anzuwenden versuchte. Er hatte eine Reihe von kleineren Delikten begangen, wie Urkundenfälschung, Betrug, Hehlerei, Anstiftung zur Begünstigung und Versuch der Anstiftung zu falschem Zeugnis. Neben der Anklage wegen Mordes und Raubes traten die anderen Delikte in den Hintergrund. Sie konnten einwandfrei bewiesen werden und rundeten damit das Gesamtbild des Angeklagten – nicht zu seinem Vorteil – ab.
Das Belastungsmaterial in der Anklage der Staatsanwaltschaft war zwar erdrückend, es fehlten ihr aber noch die entscheidenden Beweismittel:
Sie konnte nicht beweisen, dass überhaupt ein Verbrechen begangen worden war.
Sollte aber das Gericht zur Annahme des Kapitalverbrechens gelangen, so fehlte der Nachweis der Tatzeit; ebenso gab es keinerlei greifbaren Anhaltspunkt über den Tatort; es gab keine Mordwaffe; und es gab, trotz aller Fahndungen und Suchaktionen, auch keinen Toten.
Der Ankläger befand sich also in einer schwierigen Lage. Um den mutmaßlichen Täter eindeutig zu überführen und so einen Schuldspruch zu erwirken, musste erst ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verschwinden Eichenwalds und den Handlungen Webers bewiesen werden. Aber wie? Stützle, den man als Mitfahrer Webers hätte befragen können, war inzwischen verstorben. Andere Tatzeugen gab es nicht. Es ließ sich noch nicht einmal feststellen, ob der Mörder sein Opfer – also Weber den Wiener Uhrenhändler – getroffen hatte, nachdem Eichenwald den hohen Geldbetrag bei der Bank abgehoben hatte.
Nach der Überzeugung des Staatsanwalts war der Tathergang folgender: In Zürich war Eichenwald in das von Weber gemietete Auto gestiegen, um mit ihm nach Biel zu fahren. Dort wollte der Mitreisende „Direktor Dreyer“ – alias Stützle – dem Wiener Geschäftspartner angeblich wohl einen größeren Bestand von Uhren zu einem besonders günstigen Preis übergeben. Irgendwo auf dieser Strecke ist Eichenwald dann ermordet und beraubt worden.
Wenn das wirklich stimmte, dann musste sich die Bluttat durch Spuren im Wagen beweisen lassen. Leider aber waren diese Spuren durch die sorgfältige Reinigung mit chemischen Putzmitteln und heißem Wasser vernichtet worden. Außerdem lag der Raubmord an jenem verhängnisvollen 16. Oktober bereits zwei Jahre und vier Monate zurück, als der Mietwagen schließlich mit kriminalwissenschaftlichen Hilfsmitteln untersucht werden konnte. Was viele für ausgeschlossen gehalten hatten, geschah dennoch: Allen Zweifeln zum Trotz lieferte Dr. Max Frei-Sulzer, der Leiter des wissenschaftlichen Dienstes der Züricher Stadt-Kriminalpolizei, dem Staatsanwalt den entscheidenden Beweis für das Verbrechen. Als Sachverständiger führte er vor Gericht aus:
„Zunächst hatten wir den Wagen auf etwaige Spuren jenes Unfalls untersucht, bei dem der Angeklagte angeblich ein Reh überfahren haben will. Als das erfolglos blieb, überprüften wir den ganzen Boden – sowohl den Belag als auch die darunterliegenden Blechflächen – durch den Benzidin-test. Mit dieser Methode lassen sich nämlich Blutspuren auch dann noch feststellen, wenn sie mehrfach und gründlich abgewaschen oder ausgelaugt worden sind. Natürlich bleibt die Reaktion hierbei begrenzt. Bei unserem Test zeigten sich deutliche Spuren von an sich unsichtbaren Blutflecken, und zwar am Blech vor den Vordersitzen und in besonders starker Testfärbung an den Geweben unterhalb der Sitze. Wie wir einwandfrei feststellten, war Blut in die Juteverkleidung der Vordersitzpolster eingesickert. Weitere noch beweiskräftige, wenn auch geringere Spuren entdeckten wir in der Filzzwischenmatte auf dem Fußboden, ferner an den Bezügen der Rücklehne und an der Oberseite der Vordersitze. Schwache Benzidinfärbung zeigte sich auch am Blechboden vor den Sitzen im Fond, wo die Beläge erneuert und das Blech sehr nachhaltig abgewaschen worden war. Die stärksten Blutspuren ließen sich jedoch im Kofferraum nachweisen, besonders an den Seitenverschalungen und in den Tiefen der inneren Ecken.“
Entscheidend aber war, wie der Sachverständige betonte, eine Blutkruste am Unterteil des Vordersitzes. Mit bloßem Auge ließ sie sich zwar nicht erkennen, desto klarer jedoch in der wissenschaftlich-technischen Prüfung. Sie befand sich am Jutegewebe, das die Polsterung gegen die Querträger der Federn abschirmte.
„Für uns kam es nun darauf an, festzustellen, ob die Substanz Stärke enthielt. Denn wie ja der Angeklagte behauptet hat, rührten die Blutspuren angeblich von dem Mageninhalt her, den sein Mitfahrer erbrochen hatte. Falls das zutraf, mussten zersetzte Stärkekörner analytisch nachzuweisen sein, selbst bei geringsten Mengen. Für uns war deshalb diese Untersuchung ausschlaggebend. Aus diesem Grund wandten wir außer den üblichen Testmitteln auch noch das Chlorverfahren an. Es ist so außerordentlich empfindlich, dass sich damit auch im winzigsten Brotkrümel die chemische Zusammensetzung des Salzes ermitteln lässt, das der Bäcker dem Teig beigemengt hat. Am Ende unserer Versuchsreihe stand für uns unumstößlich fest: Die Blutkruste stammt unmöglich aus erbrochenem Mageninhalt!
Da es sich hierbei einwandfrei um das Blut eines Menschen und nicht eines Tieres handelte, war bereits zu diesem Zeitpunkt die Behauptung des Angeklagten widerlegt, er habe ein überfahrenes Reh in seinem Mietwagen transportiert.
Doch wenn die Blutspuren weder von Stützle noch von einem Reh stammten – von wem dann? Zwar stand nun fest, dass Webers Ausreden erlogen waren, aber wir hatten immer noch nicht bewiesen, dass es sich um Eichenwalds Blut handelte.
Wir waren uns also im Klaren darüber, dass die bisherigen Indizien bei weitem noch nicht ausreichten, den Angeklagten zu überführen. Das sollte uns jedoch mithilfe eines einzigen Härchens gelingen, das wir mit verschiedenen anderen Haaren beim Durchkämmen des Wageninnern gesammelt hatten. Wie wir wussten, pflegte Eichenwald sein Haar zu färben. Deshalb schieden alle nicht gefärbten sowie andersfarbigen Haare aus, ebenso natürlich auch die Haare von Frauen. So blieben schließlich noch vier Haare übrig, wovon aber nur ein einziges Härchen wirklich wichtig war. Es hatte sich nämlich in der Blutkruste unterhalb des Vordersitzes befunden.“
An diesem Haar hing Webers Schicksal. Das wurde den Geschworenen immer klarer, je überzeugender ihnen der Sachverständige in seinem Vortrag die kriminalwissenschaftliche Bedeutung von Haaren erläuterte:
„Nach internationalen Normen werden die menschlichen Haare zunächst nach ihrer Farbe in zehn Kategorien eingestuft. Davon ist jede Kategorie wiederum nach den verschiedenen Haardurchmessern in zehn Hauptgruppen unterteilt. Für Merkmalunterschiede besonderer Art gibt es weitere Aufgliederungen, so für die Sichtbarkeit des Haarmarks, seine etwaige Verdeckung, die Dichte der Verteilung, die Proportion zwischen dem Haar und dem Mark. Weiterhin unterscheidet man die Pigmentstruktur, woraus sich allein schon über 50.000 Haartypen ergeben. Doch nicht genug damit! Die modernen chemischen und physikalischen Hilfsmittel ermöglichen eine weitere Zerlegung in noch wesentlich feinere Merkmale, die zu mehreren hunderttausend Varianten führen. Je vollständiger also die Aussonderung nach einer maximalen Zahl von Unterscheidungszeichen ist, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Haare mit derselben Struktur nicht von einem einzigen Menschen, sondern von zwei Individuen stammen.“
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