Ihre Gedanken kehrten zurück in die Gegenwart und sie beschloss, dass der Tag viel zu schön sei, um sich so ernsten Gedanken zu widmen. Beim Kellner bestellte sie sich noch einen Cappuccino und nahm sich vor, anschließend schwimmen zu gehen.
Am nächsten Morgen begab sie sich nach dem Frühstück erst einmal in den Wellness-Bereich des Hotels. Eine ordentliche Massage würde ihr jetzt gut tun. Nachmittags schloss Christina sich der Reisegruppe des Hotels an: Sie wollte an der Rundfahrt auf dem Lago Maggiore teilnehmen. Für den Abend plante sie, nach Stresa zu fahren. Im Hotel sagte man ihr, dass dort ein Konzertabend veranstaltet würde. Christina dachte kurz nach, wie es wäre, wenn ihr dort Roberto über den Weg liefe … und dann vielleicht noch mit seiner Frau? Wie peinlich! Sei jetzt kein Feigling , sagte sie sich. Schließlich hab' ich es doch selbst heraufbeschworen, ihm irgendwo über den Weg zu laufen.
Nach dem Abendessen machte sie sich für das Konzert fertig. Je später es wurde, umso größer wurde ihre Unsicherheit, die allmählich in ihr hochstieg. Wie konnte ich nur so dumm sein? Wenn doch jetzt Volker bei mir wäre. Mit einem Partner an meiner Seite sähe das alles gleich ganz anders aus , dachte sie. Erst in der Villa, in der das Konzert stattfand, wurde sie langsam wieder ruhiger. Es waren zwar viele Leute da, glücklicherweise konnte sie aber kein ihr bekanntes Gesicht entdecken. Ihre Befürchtungen hatten sich also nicht bestätigt. Auch in der Pause hielt sie immer wieder Ausschau. Ihre innere Anspannung löste sich erst nach und nach. Es bestand keine Gefahr mehr, Christina ließ sich von den Klängen der Musik davontragen.
Später fiel sie ziemlich erschöpft ins Bett. Sie hatte ihn nicht getroffen. Das war gut so. Was hätte sie nur tun sollen, wenn er plötzlich vor ihr gestanden hätte? Womöglich noch mit seiner Ehefrau an der Hand. Wie dumm von mir , dachte sie. Vielleicht war ja alles nur eine fixe Idee. Was erwartete sie eigentlich?
Egal, jetzt war sie nun mal hier und musste das Beste daraus machen. Christina nahm sich vor, am nächsten Tag auf einen ausgiebigen Einkaufsbummel zu gehen. Das brachte sie sicher auf andere Gedanken. Ihrer Erfahrung nach machte sie das besser, bevor Volker ankam, denn wie fast alle Männer war auch er in diesen Dingen zu ungeduldig. Außerdem wollte sie sich besonders hübsch machen, wenn er eintraf.
Am nächsten Morgen machte Christina sich nach einem gemütlichen Frühstück auf den Weg zu einem Stadtbummel. Gut gelaunt genoss sie die Sonne und schaute sich die Auslagen in den Schaufenstern an. Als sie gerade aus einer Boutique trat, in der sie ein traumhaft schönes Kleid entdeckt hatte, hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme ihren Namen rufen.
„Christina? Christina, bist du es wirklich?“
Sie blieb stehen und schaute sich um. Da sah sie ihn — Roberto. Im ersten Moment dachte sie, ihr Herz bliebe stehen. Ihre große Liebe. Was nun? Wie sollte sie bloß reagieren? Seitdem sie hier war, hatte sie sich vorgestellt, wie es wohl wäre, ihn wiederzusehen. Insgeheim hatte sie sich dieses Treffen auch erhofft! Aber gerade in diesem Moment hatte sie absolut nicht mit ihm gerechnet. All die Jahre hatte sie versucht, ihn zu vergessen, sein Gesicht, das immer wieder vor ihr auftauchte, zu verdrängen. Sie wollte ihn aus ihren Gedanken streichen. Aber es gelang ihr einfach nicht. Und auf einmal stand er nun so plötzlich vor ihr. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie dachte, er müsse es hören. Wie war das möglich? Sei nicht albern , dachte sie. Einfach zusammenreißen . Doch ihr Herz gehorchte ihr nicht, es klopfte immer lauter und lauter. Er kam auf sie zu. Die anderen Menschen in der Einkaufspassage nahm sie gar nicht mehr wahr. Christina hatte den Eindruck, sie beide stünden ganz alleine auf der Straße. Ihr schoss eine feine Röte ins Gesicht. Wie konnte sie diesen Mann immer noch lieben … und zugleich hassen? Nach so langer Zeit.
Sie versuchte zu lächeln und stammelte: „Du bist es, Roberto.“ Mehr brachte sie nicht heraus.
Da stand er nun vor ihr. Der Mann, den sie über alles geliebt hatte. Und er sah blendend aus … seine dunklen Haare, das braun gebrannte Gesicht … der Kragen von seinem legeren Hemd stand etwas offen, die saloppe Kleidung ließ ihn sportlich und jugendlich aussehen. Christina blickte in seine dunklen Augen. Plötzlich war alles wieder da: Die unvergessenen Nächte voller Zärtlichkeiten, erfüllt von einer Leidenschaft, die ihre Körper vor Begierde erschauern ließ. Christina spürte plötzlich ein leises Beben in sich aufsteigen. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an, Roberto sollte auf keinen Fall bemerken, wie aufgeregt sie war. Er schmunzelte leicht, legte den Kopf etwas schräg und sah sie an.
Seine Stimme brachte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. „So ein Zufall. Was für eine Überraschung, nach all den Jahren“, sagte Roberto. „Lass dich umarmen.“
Christina war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Geruch war ihr so vertraut; er roch noch genauso angenehm wie damals. Dann spürte sie seine zarten Lippen auf ihren Wangen und ein heißer Schauer durchströmte ihren ganzen Körper. Ihr wurde ganz schwindelig. Taumelnd löste sie sich rasch aus seiner Umarmung, dann hörte sie ihn sagen:
„Wo kommst du her, was machst du hier?“
Schnell sammelte sie sich wieder und antwortete betont gleichgültig: „Ich mache Urlaub. Schön, dich zu sehen, wie geht es dir?“
„Christina, schau, das kleine Café auf der anderen Straßenseite, kennst du es noch? Da können wir uns besser unterhalten, komm', ich lade dich ein. Du musst mir alles erzählen, wie es dir ergangen ist und was du so machst.“
Christina wurde förmlich überrumpelt. Sie kam gar nicht dazu, ‚Ja’ oder ‚Nein’ zu sagen.
In dem kleinen Café ging Christina alles wieder durch den Kopf, weshalb ihre Beziehung damals zerbrochen war:
Die Satoris besaßen zwei große Hotels in Cannobio, direkt an der Uferpromenade gelegen. Darüber hinaus gehörten ihnen einige Häuser und Grundstücke. Sie waren sehr wohlhabend. Es war einfach unvorstellbar für die Eltern, dass ihr einziger Sohn, Roberto, kein Mädchen aus ihren Kreisen heiraten würde. Und mit Maria Biantini war er so gut wie verlobt gewesen, das hatten die Eltern so ausgemacht, schließlich waren die Biantinis noch wohlhabender, als die Satoris. Roberto flehte seine Eltern an das Versprechen, das sie den Biantinis damals gegeben hatten, zurückzunehmen. Sie drohten ihm jedoch nur damit, ihn zu enterben. Roberto gab nicht auf, denn er hoffte, wenn sie Christina erst einmal kennenlernten, dann würden sie ihre Meinung schon ändern. Das Ganze endete jedoch in einer Katastrophe. Für seine Eltern gab es kein Zurück mehr, es hing zu viel davon ab. Sie regten sich fürchterlich auf. Ein gegebenes Versprechen nimmt man nicht zurück. Seine Mutter behauptete, sein Vater hätte sich so sehr aufgeregt, dass er einen Herzanfall bekommen habe — was natürlich übertrieben war. Signora Satori gab Christina die Schuld dafür. Obendrein behauptete sie, sie habe sich ihrem Sohn absichtlich an den Hals geworfen, um an sein Erbe zu kommen. Außerdem brächte Sie nur Unheil über die gesamte Familie, sie sei mit dem Teufel im Bunde und wolle die Familie nur ins Unglück stürzen. Eines Morgens tauchte auch noch der Vater von Maria Biantini in ihrem Hotel auf: Er besaß die Unverschämtheit, ihr eine beträchtliche Summe anzubieten, damit sie von der Bildfläche verschwände. Schließlich erwartet Maria ein Kind von Roberto . All das war für Christina zu viel gewesen. In Tränen aufgelöst hatte sie versucht Roberto telefonisch zu erreichen, doch vergebens. Seine Mutter war am Apparat und teilte ihr mit, dass er ausrichten ließe, er habe sich dazu entschlossen, diese aussichtslose Affäre zu beenden. Doch so einfach ließ Christina sich nicht abwimmeln, und schon kurze Zeit später stand sie zum ersten Mal persönlich seiner Mutter gegenüber. Sie war fest entschlossen, selber mit Roberto zu sprechen. Seine Mutter sah aus, als hätte sie einen Geist vor sich. Sie wirkte richtig erschrocken. Sie presste die Lippen zusammen und ihre Wangenknochen traten erkennbar hervor. Noch einmal erklärte sie ziemlich scharf, dass Roberto nicht zu Hause sei und er darauf verzichte, sie wiederzusehen. Zudem solle sie sich ihren Sohn gefälligst aus dem Kopf schlagen. Für ihn sei sie sowieso nur eine dumme Liebelei gewesen, sonst nichts. Er habe schließlich Verpflichtungen seiner Verlobten gegenüber.
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