"Der Notfall", sagte ich.
„Ja, der Notfall", sagte Hans. "Das habe ich nur so gesagt. Du verstehst."
Er sah keineswegs so aus, als ob er das nur so gesagt hätte. "Setz dich doch", sagte ich. "Ja. Danke", sagte er. Blieb aber am Fenster stehen. Wir schwiegen wieder. Über meinem Fenster auf der Dachrinne trippelten die Tauben. Der erste Sonnenstrahl fand in mein Zimmer. Es roch nach Bohnenkaffee und Schwefeldioxid. Die Stadt sang ihr Lied immer lauter.
"Das ist schön", sagte Hans. "Wenn so ein Tag anfangt. Die Stimmen sind noch zu unterscheiden. Man kann hören, wie sie sich rufen."
Ich war überrascht. Das alles hätte auch ich sagen können. Aber ich hatte es vergessen. Hans hat's mir wieder bewusst gemacht. Dafür war ich ihm dankbar. Hans sprach weiter: "Es ist, als ständen die Siebenmeilenstiefel neben dem Bett. Man brauchte nur hineinzusteigen. Mit einem Schritt wäre man aus allem raus."
„Ja", sagte ich. "Aus allem raus. Aber in was kommt man hinein, Hans? In was?"
Er schwieg. Warf die Zigarette aus dem Fenster. Drehte mir wieder den Rücken zu.
"Du", sagte ich vorsichtig. "Hans. Bist du inzwischen Werner Branstner geworden?"
Hätte ich gewusst, was ich mit meiner Frage anrichtete, hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen. Hans drehte sich zu mir herum. Er hustete fürchterlich, obwohl er nicht rauchte. Er wollte was sagen. Aber er stotterte so schlimm, dass kein Wort zu verstehen war. Es war schlimm, wie er sich quälte, ein Wort herauszubringen. Bestimmt wollte er eine Menge sagen. Nicht ein Wort brachte er raus. Ich habe oft Leute gesehen, die etwas sagen wollten und nichts sagen konnten. Mir geht's auch manchmal so. Es ist, als hätte man das Sprechen verlernt. Gerade dann, wenn's drauf ankommt.
Ich konnte es nicht mit ansehen, wie er sich mehr und mehr verkrampfte. Ich sprang aus dem Bett. Zog mich mit einer Schnelligkeit an wie nie zuvor in meinem Leben. Fasste ihn an der Hand. Wir liefen raus aus der Wohnung. Aus dem Haus. Sind durch die Straßen gerannt, bis wir nicht mehr konnten. Liefen, bis wir aus der Stadt raus waren. Liefen, bis es Abend wurde. Waren irgendwo im Tagebaugebiet. Wir sprachen den ganzen Tag über nicht mehr miteinander. Ob's einer glaubt oder nicht, wir haben nicht einmal unsere Hände losgelassen. Wir unterhielten uns. Durch unsere Hände sozusagen. Mit Hans habe ich durch unsere Hände sprechen können. Ich weiß nicht, ob's verrückt ist. Weiß nur, dass es ging. Er hat mir Dinge gesagt, für die's keine Worte gibt. Und meine Hand hat auch eine Menge von mir erzählt. Ich spürte es deutlich. Fühlte mich leicht und gut.
Diesen Tag lang war's Morgen geblieben. Wir waren in die Siebenmeilenstiefel gestiegen und taten einen Schritt. Aber mit einem Schritt kommt man nicht weit genug weg. Und man kommt auch nicht aus allem raus. Heute weiß ich, dass es gut ist, dass man nicht aus allem rauskommt. Dann wäre man ständig auf der Flucht vor sich selbst. Es könnte nichts wachsen und bleiben. Damals war ich natürlich noch nicht so weise wie heute. Der Mensch wird eben nicht nur älter.
Es war dunkel geworden. Wir saßen am Rand eines riesigen Kessels. Hinter uns war auch so ein Kessel. Links und rechts auch. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Kein Tier, kein Baum, kein Strauch. Es gab keinen Wind. Keine Bewegung. Es gab nur diese Kessel. Und uns zwei.
Es war spät. Mir war's gleichgültig, dass sie zu Hause auf mich warteten. Das Zuhause, die Vergangenheit, das war alles weit weg. Gar nicht mehr wirklich. Wirklich waren diese Kessel um uns. Diese abgestorbene Landschaft. Dieses schwere blaue Licht. Diese Hitze. Der hängende Himmel. Ich spürte, wie ich mich wieder in diesem unendlichen Raum verlor. Es trieb mich weg. Weiter und weiter. Die Hand von Hans sagte mir, dass es ihm genauso ging. Ich schloss nur ganz fest die Augen.
"Du", sage Hans. "Schläfst du?"
"Nein", sagte ich. "Ich schlafe nicht."
Es begann zu regnen. Der Regen löschte das blaue Licht aus. Aber es blieb schwer um uns. Man sah den Regen nicht. Spürte ihn nur. Er war warm und derb.
"Irgendwie ist's unheimlich", sagte ich. "So fremd. Und doch so bekannt. Als hätte ich's vor Urzeiten genau so erlebt. Als hätte ich mit dir an diesem Kessel gesessen. Und nichts bewegte sich."
"Genau so", sagte Hans, "Mensch. Genau so. Erinnerst du dich, wie lange wir damals so gesessen haben? Was danach passiert ist?"
"Nein. Mir fällt nichts mehr ein. Es ist dunkel."
"Stell dir vor, es wäre irgendwas mit unserer Erde passiert", sagte Hans. "Irgendein Unglück. Wir sind die einzigen überlebenden Menschen."
"Es gibt nur noch uns und diese Kessel", sagte ich. Plötzlich graute es mir davor, aus allem raus zu sein. Ich brauchte jetzt dringend einen Menschen. Hans. Der Junge tat mir Leid. Ich selbst tat mir Leid. Fühlte mich scheußlich einsam. Wollte raus aus dieser Einsamkeit. Unbedingt. War ganz erpicht auf einen Karton. Wollte sehen, was darin ist. Ich erwartete irgendwas ganz Großartiges.
Ich drückte mich an den Jungen, der so steif saß. Legte meinen Kopf an seine Brust. Drückte seine Hand auf meine linke Brust.
"Mein Herz", sagte ich. "Kannst du's fühlen? Was fühlst du?"
Seine Hand war leicht und warm. Er sagte: "Ich fühle es schlagen. Wie eine Uhr."
Dann führte ich seine Hand unter meinen Pulli. Sie lag ohne Bewegung auf meiner Brust. Aber's musste sich was bewegen. Ich war gar nicht mehr gehemmt. Wollte nur raus aus dieser Einsamkeit. War froh, als Hans mich küsste. Überallhin küsste er mich. Auf die Stirn, die Wangen, das Kinn, die Nase, den Hals. Ganz flüchtig, als würde er sich dabei verbrennen. Nur auf den Mund küsste er mich nicht. Er hörte nicht wieder auf, mich zu küssen. Er tat mir weh. Aber's geschah wenigstens etwas. Nie habe ich mich mit Hans auf den Mund geküsst. Auch später, als er den Mut dazu gefunden hatte, habe ich's ihm nicht erlaubt. So richtig geküsst, so wie ich's mir vorstelle, habe ich noch keinen Mann.
Es regnete jetzt feiner. Es war schwarz um uns. Und so schwer. Die Kessel waren nicht mehr zu sehen. Aber Töne stiegen aus ihnen. Aus jedem Kessel ein anderer. Wie aus unendlichen Tiefen. Erdtöne. Wie unterdrückte Schreie. Ich fror.
"Dreh dich um", sagte ich zu dem Jungen. Ich zog alle Sachen aus. Legte mich auf die noch immer spröde Erde. "Hans", sagte ich. Als er mich so nackt daliegen sah, erschrak er. Sah aus, als wollte er weglaufen. Und dann sah er mich an wie ein Wunder. Das tat mir gut. Konnte gar nicht genug davon kriegen. Wie der Junge mich so ansah, wurde ich mir meines Körpers bewusst. Bisher war's für mich selbstverständlich gewesen, dass ich ein Mädchen bin. Aber begreifen tat ich's erst jetzt. Fühlte es bis in mein tiefstes Inneres. Es tat weh. Aber 's war ein Schmerz, der mir Lust bereitete.
"Streichle mich", sagte ich zu dem Jungen. Ich schloss die Augen. Endlich spürte ich seine Finger. Sie waren kalt und zitterten. Berührten meine Hände und Unterarme. Aber meine Haut reizte sie. Spürte's ganz deutlich. Es kam eine ganz andere Unruhe in sie. Sie wurden warm und beweglich. Entdeckten meinen Hals, die Beine, den Bauch, die Hüften, die Brüste. Ich hätte immer so liegen und diese von meiner Haut erregten Finger spüren können. Ich war wie ein Nest, in dem sich junge Vögel bewegen. Ich war ganz locker; aber die Beine drückte ich fest zusammen.
"Nein", sagte ich. "Nein." Ich ließ meine Augen geschlossen. Hörte Hans hastig atmen. Wie er seine Sachen auszog. Dann spürte ich derb seinen Körper auf mir. Mir war plötzlich alles gleichgültig. Ich empfand nichts. Nicht mal Schmerz. Dieser Junge tat mir wieder leid. Ich selbst tat mir leid.
Weiß nicht, wie lange ich unter ihm gelegen und stillgehalten habe. Sagte dann irgendwann "Hör auf! Hör jetzt auf." Wir zogen uns an und gingen in die Stadt zurück. Es war derselbe Weg und doch ein ganz anderer. Unsere Hände haben sich nicht gefunden. Wir sprachen nicht. Hans brachte mich vor unsere Haustür. In unserer Wohnstube brannte Licht.
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