Ich bin aus den Nachtsorgen gekrochen
wie ein Vogel aus dem Ei.
Ich habe die Schale durchbrochen
und spaziere jetzt frei.
Das war wie Musik. Keine lauten Töne. Eine Melodie, die bleibt. Man kann sie nicht erklären. Aber man ist erfüllt von einer Ahnung. Als gäbe's eine Menge mehr als das, was man sieht, hört und schmeckt. Man fühlt's ganz deutlich und kann's doch nicht fassen und halten.
Die Beschäftigung mit der Schauspielkunst hatte mich abgelenkt. Nun war in mir wieder ein unendlicher Raum frei. Nur dieses Etwas bewegte sich darin. Und obwohl der Raum so groß war, stieß es mich immer wieder schmerzhaft an. Ich konnte mich nicht wehren. Hatte ja allen Leuten Besserung versprochen. Im Sommer, in den großen Ferien, wurde ich krank davon. Alle waren stolz auf mich. Ich hatte im Zeugnis nur Einsen gebracht. War zur Oberschule delegiert worden. Aber ich fühlte mich wie im Fieber. Lag beim schönsten Wetter nur in meinem Zimmer. Wartete. Dass die Schale durchbricht. Ich hatte furchtbar viel Zeit. Es gehört mit zum Scheußlichsten, wenn man furchtbar viel Zeit hat. Wenn man mit der Zeit nichts anfangen kann, beginnt sie einen zu quälen. Ich hatte schlimme Gedanken damals. Sie spannen mich ein. Stellte mir böse Dinge vor. Einen Weltuntergang nach dem anderen. Mal laut, mal leise. Aber sooft ich die Welt auch untergehen ließ, so oft tauchte sie wieder auf. Die Welt ging nicht unter. Das war gut so. Trotz allem.
Die Stadt war laut und voller Menschen. Ich hatte Sehnsucht nach ihnen. Oder nach einem. Wusste nicht, wohin, zu wem. Änni hatte ihren "Roten Hirsch" geschlossen und war in die Ferien auf die Krim gefahren. Vater war auf einem Qualifizierungslehrgang. Mutter kam spät von der Arbeit. Ihr Chef hatte Schwierigkeiten mit dem Plan und der Kooperation. Manchmal hörte ich Mutter in der Küche weinen. Ich wollte zu ihr. Wusste, sie wartete drauf. Aber ich lag und rührte mich nicht. Wartete selbst. Vielleicht auch auf sie. Unsere Große war mit ihren Kleinen beschäftigt. Irgendwelche Wettkämpfe standen bevor. Da war mit ihr nicht zu reden. Der Doktor weilte bei seinen Eltern in Thüringen. Die verwöhnten ihn mit Klößen und Topfbraten. Warfen unserer Großen vor, dass sie sich zu wenig um den Jungen kümmere. Er war ihnen zu mager und zu blass. Sie gewöhnten ihm wieder das Rauchen ab. Der Doktor war ein geduldiger Mensch. Wenn er einen mehr getrunken hatte, bezeichnete er sich als "Diener der Menschheit". Seine Leidenschaft war das Bohren in fremden Zähnen. Dabei war er nicht gerade behutsam. Ich war einmal bei ihm zur Behandlung. Dabei soll's auch bleiben.
Zu den Großeltern zog mich nichts. Wenn sie uns besuchten, schimpften sie, dass ich so wenig zu ihnen käme. Es war die Zeit des schießenden Unkrauts. Ihr Garten war groß. Mutter entschuldigte mich immer mit der großen Belastung in der Schule. Großvater sagte, er habe auch lesen, schreiben und rechnen gelernt. Aber er habe Zeit gefunden, seinem Großvater, der eine kleine Schlosserei hatte, zur Hand zu gehen. Großmutter sagte, die Jugend sei längst nicht mehr das, was sie mal war. Sie sei ohne moralischen Halt. Die Familie zähle für sie nichts mehr. Sie prophezeite schlimme Zeiten. Sie konnte einem Angst und Bange machen.
Die Jungen und Mädchen aus meiner Klasse waren irgendwo an der Ostsee oder im Gebirge. Ein paar von ihnen waren im Lager für Arbeit und Erholung zum Erdbeerenpflücken. Ich hätte mich gemeldet. Aber Susanne fuhr auch ins Lager. Sie hätte mich mit ihrem Albert Kreisler umgebracht. Fuhr aus reiner Notwehr nicht mit.
Eines Morgens klingelte es Sturm an der Wohnungstür. Es war noch ganz früh. Mutter war schon aus dem Haus. Ich lag im Bett. Ließ mich von der Zeit, die ich zu viel hatte, quälen. Versuchte in den Zustand des Selbstmitleids zu kommen. Das kann ganz angenehm sein. Das ist so eine Traurigkeit, die das Selbst bestätigt. Wissenschaftlich ausgedrückt. Alle Welt ist schlecht. Nur man selbst ist so gut, dass man sich einfach selbst umarmen muss. Seitdem ich weiß, wie's funktioniert, macht's mir nicht mehr die richtige Freude.
Ich lag, und es hörte nicht auf zu klingeln. Das hörte ich wie Signale aus diesem unendlichen Raum, in dem ich mich bewegte. Es war eigenartig. Ich wollte aufstehen und nachsehen, wer klingelte. Aber ich rührte mich nicht. Ich lag und wartete. Hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Meine Mutter schließt für gewöhnlich immer die Tür ab, sogar wenn sie nur mal auf die Toilette muss, die auf halber Treppe ist. Danach klinkt sie ein paar Mal, ob die Tür auch zu ist. Als hätte sie einen Schatz zu verbergen. Ein Psychologe hätte genügend Stoff, um daraus eine Neurose zu machen.
Es waren fremde Schritte, die ich in unserer Wohnung hörte. Ich war unheimlich gespannt. Es war wie in einem guten Krimi, wenn der Mörder sich nähert. Ich war's Opfer und konnte mich nicht rühren. Ich wollte mich auch gar nicht rühren. Wollt's passieren lassen. Endlich was passieren lassen. Die Schritte hörte ich aus jedem Zimmer. Sie klangen suchend. Unsicher. Dann hörte ich sie eine Ewigkeit nicht. Dachte schon, der in die Wohnung eingedrungen war, sei wieder weg. Erschrak darüber. Endlich hörte ich die Schritte wieder. Vor meiner Zimmertür. Ich sah auf die Klinke. Dachte: Nun mach schon auf, Mensch!
Als Erstes sah ich eine Hand. Und das war das Verwunderliche: Ich wusste sofort, wer's war, der jetzt vorsichtig ins Zimmer trat. Erkannte ihn an der Hand, obwohl ich sie nur gefühlt und nie bewusst gesehen hatte. Hans Wegener stand vor meinem Bett und sagte: "Du musst ruhig bleiben! Bleib ganz ruhig."
Ich war enttäuscht. Und doch habe ich mich gefreut. "Setz dich", sagte ich.
Hans blieb stehen. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Er sagte: "Bist du krank? Ich habe geklingelt wie ein Verrückter. Du liegst im Bett und rührst dich nicht."
"Weißt du, wie spät es ist?", fragte ich. "Da liegen normale Bürger noch im Bett.“
"Darf ich rauchen?", fragte er. Er ging zum Fenster, das immer offen stand. Steckte sich eine Zigarette an. Rauchte. War sehr nervös, der Junge. Die Zigarette war bald nass. Hans schimpfte. Zündete sich eine neue an. Sagte: "Wie spät ist es denn? Ich habe keine Uhr mehr. Sie ist kaputt. Das Zifferblatt. Ich will gar nicht wissen, wie spät es ist. Als ob's einem was nützt, wenn man weiß, wie spät es ist."
Wir schwiegen. Er schien vollauf mit seinem Rauchen beschäftigt. Ich dachte, der wird's nie lernen, und wenn er hundert Jahre alt wird. Ich bot ihm ein Bonbon an. Er lehnte's ab, als wär's Gift. Ich spürte, dass er's gar zu gern genommen hätte. Er hatte einfach nicht den Mut dazu.
"Warum bist du damals weggelaufen?", fragte Hans. Sah zum Fenster raus.
"Weiß nicht."
"Deine Adresse habe ich von der Theaterhochschule. Die wollten sie mir zuerst nicht geben. Sie fragten, ob ich mit dir verwandt sei."
"Was hast du geantwortet?"
Hans sah mich an. Der Junge sah aus, als würde er wieder stottern. Aber er stotterte nicht. Sagte: "Ich habe gesagt, es ist dringend. Unheimlich dringend. Ein Notfall."
Der Junge sah wirklich nicht gut aus. "Ein Notfall?", sagte ich.
"Ein Notfall." Hans rauchte, lachte und hustete. Ich wusste nicht, woran ich war. Ich sagte: "Und der wäre? Dein Notfall?"
Hans sagte: "Willst du eine Zigarette? Ich kann dir wirklich nichts Gutes anbieten."
"Danke", sagte ich. "Hab mir das Rauchen wieder abgewöhnt."
"Ach so", sagte Hans. "Entschuldige. Das konnte ich nicht wissen. Das tut mir Leid. Entschuldige."
Ich kann's nicht ausstehen, wenn sich jemand fortwährend entschuldigt. Je mehr er sich entschuldigt, umso schuldiger kommt man sich selbst vor. Ich sagte: "Ich mache mir nichts aus dem Rauchen. Wirklich nicht."
"Ich konnte es ja nicht wissen", sagte der Junge. "Also entschuldige."
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